Die entscheidende Rolle des Individuums in der Geschichte

German translation of The Decisive Role of the Individual in History by Rob Sewell (December 9, 2005)

Alan Woods erinnert sich in seinem Buch über die venezolanische Revolution an ein Gespräch mit Hugo Chávez, dem Führer der Bolivarischen Revolution. "Vor längerer Zeit habe ich ein Buch von Plechanow gelesen, dass auf mich einen starken Eindruck gemacht hat. Es heißt Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte", berichtete Präsident Chávez. Er sinnierte über den Titel und sagte: " Ich weiß, niemand von uns ist unentbehrlich." Alan unterbrach jedoch und verbesserte den venezolanischen Präsidenten in diesem Punkt: "Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen ein Einzelner etwas entscheidend verändern kann." Ein typisches Beispiel dafür ist Hugo Chávez selbst.

Hugo Chávez verkörpert die Bolivarische Revolution, die sich in Venezuela entfaltet. Er hat einen Bezug zu den Kräften, die durch die Revolution entfesselt wurden, besonders zu den unterdrückten Massen. Chávez personifiziert ihre Hoffnungen und Sehnsüchte. Er beeinflusst sie und sie beeinflussen ihn. Er wird vollkommen mit ihnen identifiziert. In den Augen der Massen hat er die nötige Autorität, die Revolution möglicherweise bis zum Ende zu durchschauen. Er ist ein anschauliches Beispiel für die Rolle eines revolutionären Führers in der Geschichte, wie er von Plechanow beschrieben wird.

In der Vergangenheit war die Rolle des Individuums in der Geschichte (der "subjektive Faktor" in der marxistischen Terminologie) Gegenstand hitziger Debatten. Es gibt sogar noch heute bürgerliche Historiker, die der Meinung sind, dass Geschichte von "großen Männern und Frauen", Königinnen und Königen, Staatsmännern und Politikern gemacht wird. Vermutlich haben sie durch ihre Charakterstärke die Geschichte geprägt, während die Massen nur eine kleine oder gar keine Rolle gespielt haben. Waren es doch Hitler, der den 2. Weltkrieg anfing oder die Ermordung des Erzherzogs Ferdinands, die den Ersten auslöste. Den ökonomischen, politischen und sozialen Kräften, die weit gehend hinter den Kulissen wirken, wird nur eine geringe Bedeutung beigemessen.

Es gibt aber auch Vertreter einer Denkart, die behauptet, Individuen bewirkten überhaupt nichts, sie würden von den großen objektiven Kräften der Geschichte angetrieben. Diese Denkschule repräsentiert einen Fatalismus, bei dem das Individuum nur als Marionette handelt, deren Fäden von unsichtbaren Händen gezogen wird. Diese Vorstellung stammt aus der calvinistischen Lehre, die behauptet, dass jede menschliche Handlung von Gott vorherbestimmt ist wie eine Mondfinsternis. Es ist der Gemütszustand, der in Luthers Worten "Hier stehe ich, ich kann nicht anders." ausgedrückt wird. Die Dominanz des Schicksals macht jede Vorstellung von der individuellen Freiheit und dem unabhängigen Handeln der Massen unmöglich. Wir werden auf die Rolle von Spielfiguren reduziert.

Das ist jedoch nicht der Fall. Geschichte wird von Menschen gemacht. Anders als oberflächliche Fatalisten streiten Marxisten die Rolle des Individuums, seinen Unternehmungsgeist oder seinen Mut (oder auch den Mangel daran) im sozialen Kampf nicht ab. Es ist die Aufgabe von Marxisten, das dialektische Verhältnis zwischen dem Individuum (dem Subjektiven) und den großen Kräften (dem Objektiven), welche die soziale Bewegung bestimmen, aufzudecken. Der historische Materialismus lehnt die Rolle des Einzelnen, der Persönlichkeit, in der Geschichte nicht ab, sieht sie aber in ihrem historischen Kontext. Der Marxismus erklärt, dass kein Individuum, mag es noch so talentiert, fähig oder weitsichtig sein, die Hauptrichtung der historischen Entwicklung, die durch objektive Kräfte festgelegt wird, bestimmen kann. Unter kritischen Bedingungen jedoch kann die Rolle, die Individuen spielen, entscheidend sein, das entscheidende Glied in der Kausalitätenkette. Unter bestimmten Bedingungen kann der "subjektive Faktor" die ausschlaggebende Tatsache in der Geschichte sein. Die Rolle Lenins in der Russischen Revolution, auf die wir später zu sprechen kommen, ist dafür ein Beispiel.

Plechanows brillante Abhandlung über die Rolle des Individuums in der Geschichte ist eine Polemik gegen die russischen Narodniki, die den individuellen Helden, der gewöhnlich mit einer Bombe bewaffnet war, als den Schöpfer der Geschichte porträtierten. Die russischen Massen wurden nur als Zuschauer betrachtet. Diese Subjektivisten, schreibt Plechanow, "aus dem Bestreben heraus, der 'Persönlichkeit' eine möglichst große Rolle in der Geschichte einzuräumen, haben es abgelehnt, die historische Entwicklung der Menschheit als gesetzmäßigen Prozess anzuerkennen."

Obwohl man feststellen kann, dass der Einzelne wichtige Rollen in der Geschichte gespielt hat, so konnte eine solche Rolle nur unter den gegebenen sozialen Bedingungen eingenommen werden. Das war zum Beispiel in der Französischen Revolution von 1789 der Fall, erklärte Plechanow. "Aus den Wechselbeziehungen dieser Kräfte ist also in letzter Instanz der Umstand zu erklären, dass die Charaktereigenschaften Ludwigs XV. und die Launen seiner Favoritinnen einen so traurigen Einfluss auf die Geschicke Frankreichs ausüben konnten... Es ist klar, dass hier nicht die Schwäche ausschlaggebend ist, sondern die gesellschaftliche Stellung der Person, die an ihr krankt." Mit anderen Worten, die Gründe für die Französische Revolution liegen in der Natur der sozialen Beziehungen. Die persönlichen Qualitäten der führenden Individuen spielen eine Rolle, aber nur im allgemeinen Kontext, und sind den umfassenderen beteiligten historischen Kräften untergeordnet.

"Es ergibt sich, dass die Persönlichkeiten kraft der gegebenen Besonderheiten ihres Charakters die Geschicke der Gesellschaft beeinflussen können", fährt Plechanow fort. "Mitunter ist dieser Einfluss sogar recht beträchtlich, aber sowohl die Möglichkeit einer solchen Beeinflussung selbst als auch ihr Ausmaß werden durch die Organisation der Gesellschaft, durch das Wechselverhältnis ihrer Kräfte bestimmt. Die Charaktereigenschaften der Persönlichkeit sind nur dann, nur dort und nur insofern ein ‚Faktor' der gesellschaftlichen Entwicklung, wann, wo und inwiefern die gesellschaftlichen Beziehungen ihnen erlauben, es zu sein."

Mit anderen Worten, die Rolle von Individuen unterliegt bestimmten Grenzen. "Kein noch so großer Mann kann der Gesellschaft Beziehungen aufzwingen, die dem Zustand dieser nicht mehr entsprechen oder noch nicht entsprechen. In diesem Sinne kann er in der Tat nicht Geschichte machen, und in diesem Fall würde er vergebens den Zeiger seiner Uhr vorstellen: er würde den Lauf der Zeit nicht beschleunigen und auch nicht umkehren."

An seinem Lebensende lieferte uns Friedrich Engels eine Zusammenfassung des historischen Materialismus, in der er das Individuelle in der Geschichte behandelte. "Die Menschen machen ihre Geschichte selbst", schrieb Engels im Januar 1894, "aber bis jetzt nicht mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan, selbst nicht in einer bestimmt abgegrenzten gegebenen Gesellschaft. Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht eben deswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Die Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. Hier kommen dann die so genannten großen Männer zur Behandlung. Dass ein solcher und gerade dieser, zu dieser bestimmten Zeit in diesem gegebenen Land aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen wir ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz, und dieser Ersatz findet sich, tant bien que mal, aber er findet sich auf die Dauer." Engels fährt fort und beschreibt Beispiele für dieses Phänomen. "Dass Napoleon, grade dieser Korse, der Militärdiktator war, den die durch eignen Krieg erschöpfte französische Republik nötig machte, das war Zufall; dass aber in Ermangelung eines Napoleon ein andrer die Stelle ausgefüllt hätte, das ist bewiesen dadurch, dass der Mann sich jedes Mal gefunden, sobald er nötig war: Cäsar, Augustus, Cromwell etc." (Engels an W. Borgius)

Obwohl der historische Materialismus den objektiven Faktoren in der Geschichte, wie dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und den vorhandenen Klassenbeziehungen, den Vorrang einräumt, so kann doch der subjektive Faktor eine bedeutende Rolle spielen. Es steckt jedoch noch mehr dahinter. Die Aufteilung der Phänomene in der Geschichte in "objektiv" und "subjektiv" ist nicht eindeutig und hängt von ihren entsprechenden Beziehungen ab. Der Weltmarkt, zum Beispiel, ist für jede Nation die ihn mitgestaltet objektiv. Jede Nation ist dem Weltmarkt unterworfen und unausweichlich mit ihm verbunden. Unterdessen ist die Nation objektiv für die Klassen vorhanden, die ihre Sozialstruktur bilden. Andererseits existiert die herrschende Klasse für die Arbeiterklasse objektiv, genauso die Klasse für deren Partei. Der Einzelne nimmt in Bezug auf diese Faktoren eine subjektive Haltung ein.

Aber der Einfluss des Individuums auf den historischen Prozess kann von unbedeutend bis absolut entscheidend reichen. Der Grad dieses Einflusses hängt von der Entwicklungsstufe der geschichtlichen Bedingungen ab, von den Wechselbeziehungen der sozialen Kräfte und der Rolle des Individuums innerhalb dieser Kräfte. Es gibt lange Zeiträume, in denen selbst der Weitsichtigste keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte hat. Andererseits kann die Rolle des Einzelnen zu bestimmten Zeiten, unter kritischen Bedingungen entscheidend sein. Anders ausgedrückt, welche sozialen Kräfte oder Klasseninteressen stehen hinter dem Individuum und wie gut vertritt er oder sie diese Kräfte?

Helvetius sagte einst, jede Epoche ruft Personen von entsprechender Statur hervor, und wenn diese nicht vorhanden sind, müssen sie erfunden werden. In Bezug auf Wellington bemerkte Engels:" Auf seine Art ist er großartig, so großartig wie man nur sein kann, ohne aufzuhören eine mäßige Begabung zu sein." Eine solche Beschreibung könnte auch leicht auf Stalin angewandt werden, dessen beschränkte Persönlichkeit dem Charakter der Konterrevolution in der Sowjetunion seinen Stempel aufdrückte.

Während Trotzki die Periode des revolutionären Aufschwungs repräsentierte, stand Stalin für die Periode des Rückzugs und der Konterrevolution. Er wurde zum Aushängeschild für die bürokratische Reaktion innerhalb der Sowjetunion. Trotzki beschrieb Stalin wie folgt: "Trotz allem bleibt er mittelmäßig. Er ist weder fähig zu verallgemeinern noch weitsichtig zu denken. Seiner Intelligenz fehlt der Geist und die Lebhaftigkeit und er kann nicht logisch denken. Jeder seiner Sätze dient einem praktischen Ende, niemals erreicht eine Rede den Höhepunkt einer logischen Konstruktion. Diese Schwäche trägt zu seiner Stärke bei. Es gibt historische Aufgaben, die nicht ausgeführt werden können, wenn jemand auf Verallgemeinerungen verzichtet; es gibt Zeiten, in denen Verallgemeinerungen und Weitsichtigkeit ein Schlüssel zum unmittelbaren Erfolg sind; das sind die Zeiten des Niedergangs und des Absturzes und der Reaktion." (Trotzki, Schriften 1936-37)

In Bezug auf die Wichtigkeit der entscheidenden Führung in der sozialistischen Revolution sticht Lenins Rolle als maßgeblich heraus. Hätte ein anderer bolschewistischer Führer, eventuell Trotzki, Lenins Rolle übernehmen können? Trotzki glaubte das nicht. Angesichts der konkreten Situation, in der die Bolschewistische Partei im April 1917 für die sozialistische Revolution wiederbewaffnet werden musste, hatte nur Lenin die nötige Autorität in der Partei. Der konservative Druck der anderen Führer wäre ohne Lenin zu einflussreich gewesen. Mit anderen Worten, die Bedeutung des bewussten subjektiven Faktors zeichnete sich mit größerer Kraft aus als jemals zuvor. Lenins Rolle hätte nicht jemand anderen übernommen werden können. Das lag nicht ausschließlich an seinen persönlichen Qualitäten, sondern an seinem außergewöhnlichen Ansehen in der Bolschewistischen Partei. Während die Bolschewisten die Arbeiter und Bauern anführten, führte Lenin die Bolschewistische Partei an. Er war der Anführer der Führer.

Einer der fundamentalen Gründe für diese kritische Rolle der Führerschaft oder des subjektiven Faktors in unserer Epoche rührt aus der Tatsache, dass sämtliche objektiven Bedingungen für den Sturz des Kapitalismus überreif sind, wie z.B. die Vernetzung der Weltwirtschaft, die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Gesellschaft voranzubringen, die chronische Instabilität und Ausweglosigkeit des Systems, die barbarischen Elemente, die immer wieder zum Vorschein kommen, die Massenarbeitslosigkeit usw. Die Niederlagen verschiedener Revolutionen seit der Oktoberrevolution von 1917 sind im Versagen der Führer der Massenorganisationen, sowohl der sozialdemokratischen als auch der stalinistischen, begründet. Für die erfolgreiche sozialistische Revolution wird eine Massenpartei mit einer weitsichtigen marxistisch geschulten Führerschaft (das Gedächtnis der Arbeiterklasse) benötigt. Die Bolschewiken unter der Führung von Lenin und Trotzki waren in der Lage diese zu stellen. Sie stellten die dialektische Einheit von objektiven und subjektiven Faktoren.

Wie Hugo Chávez schon erklärte, die Wahl, welche der Menschheit bevorsteht, ist die Wahl zwischen Sozialismus oder Barbarei. Es ist heute die Aufgabe, die Kader aufzubauen, Individuen mit dem nötigen Wissen und marxistischer Erfahrung, die auf der Grundlage von Ereignissen für den subjektiven Faktor sorgen, der benötigt wird, um die historische Aufgabe bis zum Ende zu durchdenken. Das heißt mit Trotzkis Worten, die unbewussten Bestrebungen, die organischen Tendenzen, der Arbeiterklasse zum Sturz des Kapitalismus bewusst zu machen. In diesem Prozess kann die Rolle des Einzelnen entscheidend sein.

09. Dezember 2005

Übersetzung: Tony Kofoet