Wohin geht die Ukraine?

Das Drama endete mit den Sturz von Janukowitsch. Aber in Wahrheit ist dies nicht das Ende, aber ein mögliches Ende vom zweiten Akt. Im Moment der Wahrheit war niemand bereit, sein eigenes Leben für ein Regime zu opfern, dass bereits komplett von innen heraus verrottete. Es brauchte nur einen entschlossenen Stoß, um es zu stürzen. Die Macht fiel in die Hände der Opposition wie ein überreifer Apfel, der von einem Baum fällt. Die Frage ist: Was wird sie damit tun? Eine Analyse von Alan Woods.

Unter Jubelstürmen beschloss das ukrainische Parlament am letzten Samstag die Absetzung von Präsident Janukowitsch und setzte eine Präsidentschaftswahl auf den 25. Mai an. Die Bevölkerung der Ukraine hat das alles schon einmal gesehen. Es ist wie ein schlechter Film, den man schonmal gesehen hat und nicht in der Endlosschleife immer wieder ansehen will. Jetzt, wie schon im Jahre 2004-05, wurde ein korruptes Regime gestürzt. Jetzt, genauso wie damals, reden die Menschen aufgeregt über den neuen Aufschwung der Ukraine, über Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. "Wir haben gewonnen!", gellt es von allen Lippen. Aber wer genau hat gewonnen? Die gleiche Frage musste man sich damals wie heute stellen.

Die letzten zwanzig Jahre haben der Ukraine bereits gezeigt, dass das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und die Erringung der 'nationalen Unabhängigkeit' auf der Basis des Kapitalismus keine Lösung für die Ukraine gebracht hat. Im Gegenteil, zwanzig Jahre nach der Erringung der formellen Unabhängigkeit wurde ein potentiell reiches und wohlhabendes Land in einen Abgrund aus Leid und wirtschaftlichen Krisen gestoßen.

Hinter der demagogischen Lüge der 'Unabhängigkeit' versteckt sich die Herrschaft von Kriminalität, Degeneration und einer reaktionären Oligarchie und eine korruptes und repressives Mafia-Regime, dass sogar noch schlimmer ist, als das, was in Russland auf dem Rücken der Arbeiterklasse sitzt. Der Abstieg ist noch schwerer für die UkrainerInnen, die sich noch an die alte und gloreiche Vergangenheit erinnern.

Ukrainische Geschichte

Die geschichtliche Schicksal der Ukraine ist vom Geographischen geprägt. Mit 603.628 km² ist die Ukraine der größte Staat Europas. Trotzdem ist es ein Land, das zerrissen ist zwischen Westen und Osten. Im Osten und Nordosten liegt die mächtige russische Föderation, Weißrussland im Nordwesten; Polen, die Slowakei und Ungarn im Westen; Rumänien und Moldawien im Südwesten und das Schwarze Meer und Azowsche Meer im Süden und Südosten. Der Name Ukraine selbst deutet auf ein Grenzland hin.

Die ukrainische Sprache ist ein Mitglied der Ostslawischen Sprachfamilie, die auch Weißrussisch und Russisch selbst umfasst. Das ukrainische Nationalbewusstsein wurde durch die Erinnerungen an eine lange und reiche Geschichte geformt. Im Mittelalter war Kiew ein großes Handels- und kulturelles Zentrum, als Moskau noch ein unbedeutendes Dorf war. Es wurde gar als Zentrum der ostslawischen Kultur anerkannt und war die historische Hauptstadt des alten Rus. Kiew war Zentrum eines blühenden kulturellen Lebens, einer wunderschönen Kunst, guter Literatur, Dichtkunst und Musik. Aber dieser vielversprechende Anfang wurde durch die Invasionen der Mongolen vernichtet und konnte sich nie vollständig erholen.

Das Zentrum der ostslawischen Kultur verlagerte sich nach Moskau. Eine Kosakenrepublik blühte für ein Jahrhundert zu Beginn der Neuzeit auf, aber die Ukraine blieb aufgeteilt zwischen Russland und Polen. Sie wurde zu einer Art Pufferstaat, der vom großen Bruder im Norden abhängig war, wo sie auch abfällig als „Klein-Russland“ bezeichnet wurde. Das 19. Jhdt. sah den Wideraufstieg einer ukrainischen Kultur mit Schriftstellern wie Taras Schewtschenko und Panteleimon Kulisch. 1918
wurde nach der Oktoberrevolution kurzzeitig eine unabhängige Ukraine ausgerufen, die aber in Wirklichkeit nur ein Deckmantel für die Herrschaft des deutschen Militärs war. Das war in der Ukraine immer der Fall: „Unabhängigkeit“ stellte sich am Ende immer als ein Feigenblatt für ausländische Dominanz in der ein oder anderen Form dar. Dies hat sich auch in unserer Zeit nicht großartig verändert.

Nach einem kurzen Bürgerkrieg in der die rote Armee die Weißen und ihre Verbündeten, die ukrainischen Nationalisten besiegte, wurde die Ukraine als eine autonome Sowjetrepublik in die Sowjetunion eingegliedert. Lenin bestand immer darauf, allen Nationalitäten mit Respekt zu begegnen und warnte davor ihre nationalen Empfindungen und Gefühle zu verletzen. Aber Stalin and die großrussische Bürokratie zertrampelten die Ukraine und andere nationalen Minderheiten in der Sowjetunion.

Die ukrainische Bauernschaft erlitt aufgrund der Zwangskollektivierung eine Katastrophe: Millionnen verhungerten, während Millionen andere nach Sibirien und andere abgelegene Regionen deportiert wurden, aus denen viele nie zurückkamen. In den 30er Jahren, während Stalins blutigen Schauprozessen, wurde die Ukrainische Kommunistische Partei wie auch die die führenden ukrainischen Intellektuellen dezimiert. Man klagte sie des „bürgerlichen Nationalismus“ an. All diese Verbrechen des Stalinismus zerstörten Lenins internationalistische Politik in der nationalen Frage und untergruben die Solidarität zwischen den verschiedenen Sowjetvölkern, was zu einer fatalen Schwächung der Sowjetunion im Angesicht der aggressiven Politik Hitlers führte. Im zweiten Weltkrieg erlebten die Menschen in der Ukraine einen neuen und noch grausameren Alptraum unter deutscher Besatzung.

Die Herrschaft der Oligarchie

In der Zeit der Sowjetunion stand die Ukraine unter Kontrolle der Bürokratie in Moskau. Aber wie in jeder anderen Sowjetrepublik gab es auch eine nationale, ukrainische Bürokratie, die nach dem Vorbild des großen Bruders in Moskau geformt war. Der Zusammenbruch des bürokratischen Systems des Stalinismus führte deswegen sehr schnell zum Zerbrechen der Sowjetunion in ihre Einzelteile. Unter dem Deckmantel des Kampfes für „Nationale Unabhängigkeit“ machten sich die gierigen und korrupten Bürokraten das herrschende Chaos und die Verwirrung zu nutze, um die verstaatlichte Industrie zu plündern und sich selbst in Privatbesitzer und Kapitalisten zu verwandeln.
Diese Oligarchen haben von der Korruption und dem politischen Chaos der letzten zwei Jahrzehnte in der Ukraine profitiert. Eine kleine Handvoll wohlhabender Räuberbarone genießen ihren obszönen Reichtum durch das Eigentum, das sie dem Volk durch die sogenannte Privatisierung gestohlen haben. Ungefähr ein halbes Dutzend Oligarchen in der Ukraine haben siet dem Zusammenbruch der Sowjetunion diese sagenhaften Reichtümer angehäuft.

Rinat Achmetov besitzt ein geschätztes Vermögen von 15,4 Mrd $ und ist damit 47ster auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt. Als reichster Mann der Ukraine ist Achmetov der mächtigste der Oligarchen. Ihm gehört der Fußballverein Schachtjor Donezk und er ist der größte Player in der Bergbauindustrie im Donbas, der Hochburg des Präsidenten im Osten der Ukraine. 2011 zahlte er 136,4 Mio für ein Penthouse in London, die teuerste Immobilie, die jemals in Großbritannien verkauft wurden. Er gilt seit langer Zeit als die Macht hinter dem Thron und war zentral für den Aufstieg Janukowitschs.

Wiktor Pintschuk baute ebenfalls ein großes Vermögen auf, während sein Schwiegervater Leonid Kutschma Präsident war. Janukowitschs Sohn Olexandr, von Beruf Zahnarzt, hat in den letzten drei
Jahren ebenfalls ein großes Vermögen angehäuft, für das er wohl sehr viele Zähne ziehen müsste. Ein unbekannter 28-jähriger namens Sergej Kurtschenko besitzt seit neuestem anscheinend Anteile im Wert von 800 Mio $, aber niemand weiß woher dieser Reichtum kommt.

Diese Leute und ihre Kollegen sind die wirklichen Herrscher der Ukraine. Sie kontrollieren Parlamentsmitglieder und politische Parteien, sie besitzen Fernsehsender, und sie haben die maßgeblichen Politiker in der Tasche.Diese Männer und ihre Familien leben in Luxus, der für ihre Landsmänner und -frauen wie von einem anderen Planeten ist. Auf der anderen Seite leben Millionen UkrainerInnen in extremer Armut, einige am Rande des Bettelns, und sind gezwungen zu emigrieren. Das ist die Bilanz aus zwei Jahrzehnten bürgerlicher „Unabhängigkeit“ der Ukraine.

So sieht es heute in der Ukraine aus. Diejenigen an der Spitze haben ihre Schnauzen tief in den Futtertrögen vergraben, während die am Boden noch tiefer sinken. Das hat dazu geführt, dass Unzufriedenheit, Wut und Frustration am Siedepunkt angelangt sind. Vor neun Jahren haben die Leute ihren Unmut durch die sogenannte „Orangene Revolution“ zum Ausdruck gebracht (Vgl.: http://www.marxist.com/marxism-ukraine.htm ). 2004-2005 dauerten die Massenproteste zwei Monate, Wiktor Janukowitsch war auch damals Präsident. Er wurde vom pro-westlichen Wiktor Juschtschenko und seiner damaligen Verbündeten Julia Timoschenko besiegt. Aber das führte lediglich zu einem Machttransfer von einer Fraktion der Oligarchie zur anderen. Es änderte sich nichts außer die Gesichter der Aubeuter.

Auf der Basis von massiver Desillusionierung rächte sich Janukowitsch, indem er 2010 zum Präsidenten gewählt wurde. Die unglückliche Timoschenko endete hinter Gittern, nachdem sie des „Machtmissbrauches“ bezichtigt wurde (Haben sie nicht alle ihre macht missbraucht?). Wieder änderte sich nichts. Jetzt sind die UkrainerInnen zurück auf der Straße. Eine weitere Regierung ist gefallen. Und es hat sich etwas verändert – aber nicht unbedingt hin zum Besseren.

Wirtschaftlicher Zusammenbruch

Der Funke, der die jüngste Welle an Massendemonstrationen entzündete, war die Regierungsentscheidung von Janukowitsch, ein weitreichendes Assoziierungsabkommen mit der EU unter Druck Russlands nicht zu unterzeichnen. Aber die Wurzeln der Unzufriedenheit liegen viel tiefer.
In letzter Zeit hat sich die chronische Wirtschaftskrise in der Ukraine in einen Zusammenbruch mit erschreckenden Dimensionen verwandelt. Die nationale Währung, die Hryvnia, ist auf den tiefsten Stand gegenüber den US-$ seit ihrer Einführung vor 18 Jahren gefallen. Nach verzweifelten Versuchen der ukrainischen Nationalbank die Währung durch Eingriffe in den Währungsmarkt stabil zu halten, war sie letztendlich gezwungen, fixe Wechselkurse einzuführen. Außerdem musste sie eine Begrenzung der privaten Überweisungen ins Ausland und ein Verbot des Kaufs von ausländischen Währungen für Investitionen im Ausland.

Dieser Versuch die Hryvnia zu stützen, war desaströs für die Währungsreserven des Landes. Nach offiziellen Statistiken gab die Zentralbank alleine im Januar 1,7 Mrd $ (1,25 Mrd €) aus, um den Wechselkurs zu stützen. Jetzt liegen die Fremdwährungsreserven nur noch bei 17,8 Mrd $. Das ist weniger, als die Ukraine braucht um zwei Monate ihre Importe zu bezahlen. Die ausländischen Investoren verlassen das sinkende Schiff.

Die ukrainischen Offiziellen schieben den Massenprotesten der 10%igen Abwertung seit November in die Schuhe. Aber der Absturz der Hryvnia ist die logische Folge aus Jahren des wirtschaftlichen Abstieges, Korruption, Betrug und Chaos, was sich am deutlichsten in einem großen Außenhandels-
und Budgetdefizit ausdrückt. Die ukrainische Wirtschaft leidet an einer fatalen Kombination aus den schlimmsten Merkmalen des alten bürokratischen Staatsapparates und des neuen Gangsterkapitalismus.

Viele Menschen, besonders aus dem ländlicheren westlichen Teil des Landes, waren dazu gezwungen, die Ukraine auf der Suche nach Arbeit und Geld um ihre Familie zu unterstützen zu verlassen. Laut Statistiken der Weltbank befindet sich die Ukraine mit 9,3 Mrd $ 2013 unter den 10 Ländern mit den meisten Überweisungen aus dem Ausland. Sie schätzt die Gesamtzahl der UkrainerInnen, die im Ausland arbeiten, auf knapp 5 Millionen. 2012 schickten diese 7,5 Mrd $ (das sind 4% des ukrainischen BIP) durch Banküberweisungen in die Heimat.

Die Oligarchie fährt vor allem über die Banken damit fort, die Menschen auszunehmen. Diese verlangen exorbitant hohe Zinsraten. „In Polen kann man einen Kredit für 7% aufnehmen, in Deutschland zahlt man 3%“, so Zenoviy Berms, ein Geschäftsmann aus Lwow. „In der Ukraine kostet es dich 25-30%, um von der Bank etwas auszuleihen.“ Während die Oligarchen um die Aufteilung der Beute streiten, werden kleine Unternehmen ruiniert. Zwischen 2010 und 2012 sank die Anzahl der Unternehmen laut der ukrainischen staatlichen Statistikbehörde um 600.000.

Viele Selbstständige, Freiberufler und Kleinunternehmer begannen damit, sich an den Protesten in der Hauptstadt und anderen Städten zu beteiligen. Sie sind immer verzweifelter und haben die massive Korruption und den Druck auf ihre Unternehmen durch Steuern, Zölle und bestechliche Beamte satt. Besonders im traditionell nationalistischen, ukrainischsprachigen Westen kann die Mittelschicht leicht rechten und nationalistischen Demagogen zum Opfer fallen.

Die EU und die Ukraine

Wie ein Ertrinkender klammern sich viele Menschen in der Ukraine angesichts dieser Situation an jeden Strohhalm. Das Assoziationsabkommen mit der EU sahen viele als einen Ausweg aus dem Desaster. Viele haben die Hoffnung, dass sie dadurch einen Lebensstandard wie in Deutschland bekommen könnten. Das ist natürlich eine reine Illusion, wie ihnen die BürgerInnen Griechenlands und Spaniens ganz einfach sagen könnten.

Die EU hat der Ukraine ein Handelsabkommen angeboten. Dies beinhaltete auch eine Lockerung der Einwanderungsbestimmungen in die EU. Dies erklärt auch die Popularität dieses Abkommens in der Westukraine. Dementsprechend hat die Bewegung auch unter ukrainischen MigrantInnen im Westen großen Zuspruch erfahren. In Wirklichkeit geht es der EU aber vor allem darum, die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands zu eisen.

Anfangs schien es, als würde Janukowitsch dieses Angebot annehmen. Doch dann änderte er plötzlich seine Meinung. Die Oligarchen, die die Schwerindustrie im Osten der Ukraine kontrollieren, legten wohl ihr Veto ein, weil dieses Abkommen ihren wirtschaftlichen Interessen in Russland entgegenlief. Die erfolgreicheren Stahlmagnaten, die eher Richtung EU und Asien exportieren, hielten aber still. Die Oligarchen waren also in der Frage der Neudefinition der Beziehungen zur EU gespalten. Ein Anruf aus dem Kreml dürfte aber ausgereicht haben, um Janukowitsch zum Umdenken zu bewegen.

Es braucht nicht viel, um zu verstehen, was zu dieser schnellen Kehrtwende geführt hat. Die Ukraine ist schwer verschuldet. Und die Frage ist immer: Wer zahlt? Der Westen, einschließlich Frau Merkel, ist in dieser Frage sehr zurückhaltend und geizig. Die EU wollte bislang nicht einmal eine Milliarde $ zur Verfügung stellen. Das war natürlich eine offene Beleidigung. Mr. Janukowitsch ist ein Mann von Ehre und ist daher nur bereit, sich zu einem sehr hohen Preis zu verkaufen. Und dieses Angebot war eindeutig zu niedrig. Auf der anderen Seite hielt ihm sein alter Freund Putin eine sehr schmackhafte Karotte und einen sehr großen Prügel vor die Nase: 15 Mrd. wenn er das Angebot annimmt, oder das Abdrehen der Erdöl- und Erdgaslieferungen, wenn er es nicht annimmt. Da war es nicht sonderlich schwer für den ukrainischen Präsidenten sich zu entscheiden.

Die Verweigerung der ukrainischen Regierung das Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, kam wie ein Schock für die Menschen. Das war der Funke, der eine Welle des Protests auslöste, der das Regime bis auf seine Grundfesten erschüttern sollte.

Welche Art von Protesten?

Es ist die Pflicht von MarxistInnen den Charakter von Bewegungen zu analysieren, seinen Klassencharakter zu bestimmen, die Interessen aufzuzeigen, die hinter den Losungen stehen, und klar zu unterscheiden, was in einer Bewegung fortschrittlich und was in ihr reaktionär ist. Dabei ist festzustellen, dass nicht jede Massenbewegung revolutionär oder fortschrittlich ist. Und selbst wenn die Bevölkerung es schafft, mit revolutionären Mitteln ein tyrannisches Unterdrückerregime zu stürzen, heißt das noch lange nicht, dass das, was an seine Stelle tritt, auch nur einen Deut besser ist.
Anfangs wurden die friedlichen Proteste gegen Janukowitsch von breiten Bevölkerungsteilen in der ganzen Ukraine sicherlich mit großer Sympathie gesehen. Die überwältigende Mehrheit ist wütend über den verheerenden Zustand der Ukraine, die eigentlich ein sehr reiches Land wäre. Der hass auf die korrupten Oligarchen ist in der Ostukraine nicht weniger ausgeprägt als im Westen des Landes.
Auf den Straßen Kiews sahen wir jedenfalls Massenproteste. Dieses Mal warteten die Menschen nicht darauf, dass ihnen die Stadtverwaltung freiwillig die Türen öffnet. Sie stürmten die Regierungsgebäude, schlugen Fenster ein und besetzten die Gebäude. Aus Panik setzte der Präsident auf staatliche Repression. Doch damit konnte die Protestbewegung nicht eingeschüchtert werden, im Gegenteil, die Gewalt der Polizei machte die Menschen nur noch wütender. Das führte zu einer Ausweitung der Proteste. Die längste Zeit beteiligten sich aber nur zwischen 2000 und 20000 Menschen an EuroMaidan. Die Schocktruppen des Protests wurden unter den Fußballfans von Dinamo Kiew rekrutiert. Die meisten EinwohnerInnen von Kiew gingen aber weiter ihrem täglichen Leben nach. Ausländische Beobachter merkten an, dass nur eine relativ kleine Zahl an AktivistInnen an den Auseinandersetzungen mit der Polizei teilnahmen. Doch sie konnten sich der Unterstützung und Sympathie großer Teile der Bevölkerung vor allem in der Westukraine sicher sein.

Die Euromaidan-Bewegung in Kiew hatte vor allem die Unterstützung der Mittelschichten: nicht nur Intellektuelle, sondern auch Teile des traditionellen Kleinbürgertums. Seine soziale Basis fand die Bewegung vor allem unter ruinierten kleinen und mittleren Unternehmern, derer es in der Ukraine viele gibt, und im Lumpenproletariat, den deklassierten Schichten am Rande der Gesellschaft. Vor allem unter Letzteren rekrutierten sich jene Kräfte, die an den gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligt waren. Die Arbeiterklasse spielte als eigenständige organisierte Kraft in diesen Protesten keine Rolle und blieb passiv abwartend.

Die Opposition ist sehr heterogen, wird aber eindeutig von rechten Parteien dominiert. Da ist einmal die Partei von Vitali Klitschko, dem ehemaligen Boxchampion, UDAR. Diese Mitte-Rechts-Partei, die auch in der Rada, dem Parlament, vertreten ist, wurde in Berlin gegründet und steht vor allem für eine verstärkte Integration mit der EU. Klitschko selbst ist eine Marionette von Merkel und folgt den Vorgaben aus Berlin.

Das gibt es die Partei Batykivshchina ("Vaterland") von Yulia Tymoshenko, die mit Viktor Yushchenko 2004 die “Orange Revolution” anführte. Ihr Nachfolger an der Parteispitze ist Arseniy
Yatsenyuk, den der Westen sehr schätzt. Er spricht gutes Englisch und ist auch bereit alles wiederzugeben, was westliche Ohren gerne hören.

Es ist jedoch offensichtlich, dass diese gemäßigten Oppositionsparteien, die jetzt in Kiew das Sagen haben, nicht unbedingt das volle Vertrauen der DemonstrantInnen genießen.

Faschismus in der Ukraine

Das sind die “respektablen” Gesichter der Opposition, die von Washington und Berlin bevorzugt werden. Doch hinter ihnen stehen sehr zwielichtige Kräfte. Da ist einmal die rechtsextreme Partei Svoboda ("Freiheit") unter Oleg Tyagnybok, die sich als „moderate“ Spielart des Faschismus gibt. Und dann gibt es noch die „extremen“ Faschisten und offenen Nazis, allen voran die Gruppe „Rechter Sektor“ (UNA-UNSO) unter Führung von Dmitry Jaros. Doch es gibt auch noch andere Nazi-Organisationen, wie die „Patrioten der Ukraine“, der „Weiße Hammer“ und „Trident“, eine Bewegung, die sich in der Tradition des ukrainischen Nazis Stephan Bandera aus der Kriegszeit sieht.

Diese Gruppen gehen in ihrem Hass auf Russland so weit, dass die Notwendigkeit eines Krieges gegen das Nachbarland fixer Bestandteil ihrer Ideologie darstellt. Als Hitler 1941 die Sowjetunion angriff, war eine kleine Minderheit in der Ukraine bereit mit den Nazis zu kollaborieren. Stephan Bandera war der Führer dieser Bewegung. Sein Ziel war es, die Nazis davon zu überzeugen, dass sie eine unabhängige Ukraine unterstützen. Er vertrat ein offen faschistisches und rassistisches Programm. Im Programm seiner Bewegung (OUN-B) steht im Unterkapitel „Minderheitenpolitik“:

"Moskali (Russen), Polen, Juden sind Feinde unseres Volkes und müssen in diesem Kampf vernichtet werden, dies gilt vor allem für jene, die unserem Regime Widerstand leisten: deportieren wir sie in ihre Heimat, und was von größter Bedeutung ist: zerstören wir ihre Intelligentsia, die in Machtpositionen sitzt… Juden müssen isoliert und aus Regierungspositionen entfernt werden, damit sie keine Sabotage betreiben können; jene, auf deren Fähigkeiten wir angewiesen sind, dürfen nur unter Aufsicht arbeiten… Die Assimilierung der Juden ist nicht möglich."

Diesen Worten folgten Taten. Ende 1942 begann die OUN-B mit der ethnischen Säuberung von Volhynia und 1944 wurde diese Kampagne auf Ostgalizien ausgeweitet. Es wird geschätzt, dass 1943 in Volhynia 70000 Polen, großteils Frauen und Kinder, von Banderas Anhängern ermordet wurden.
Die Nazis stützten sich auf Banderas Bewegung bei der Eroberung der Ukraine, doch später wendeten sie sich auch gegen die ukrainischen Nationalisten. Natürlich! Für Hitler gab es nur eine Herrenrasse und alle slawischen Völker (einschließlich der Ukrainer) waren für ihn Untermenschen, die bestenfalls dazu gut waren der arischen Rasse zu dienen. Die Nazis behandelten die Ukrainer wie Sklaven und ihr Land wie einen gigantischen Brotkorb zur Versorgung der deutschen Wehrmacht mit landwirtschaftlichen Produkten. Dieser Alptraum endete erst, als die Rote Armee die Ukraine aus der faschistischen Barbarei befreite.

Heutzutage versuchen manche diese historische Wahrheit zu leugnen und machen aus Bandera einen Nationalhelden. 2010 erteilte Viktor Yushchenko, einer der Lieblinge des Westens, Bandera posthum den Titel „Held der Ukraine“. Erst nach heftigen Protesten aus Russland, Polen und von jüdischen Organisationen wurde diese Auszeichnung 2011 wieder rückgängig gemacht. In den letzten Wochen wurden Banderas Porträts auf dem Maidan offen herumgetragen, was schon einiges über den reaktionären Charakter zumindest eines signifikanten Teils der Protestbewegung aussagt. Dies manifestierte sich auch in der Zerstörung des Lenin-Monuments in Kiews und in den Gewaltorgien gegen Linke und Gewerkschafter. Zu Beginn unterstützte der ukrainische Gewerkschaftsverband QSPA die Proteste auf dem Maidan. Ein Abgeordneter der rechtsextremen Svoboda-Partei rief jedoch dazu auf, alle Linken aus der Demonstration zu werfen. Daraufhin wurden Gewerkschafter attackiert und verprügelt. Diese konterrevolutionäre Gewalt wurde in den westlichen Medien aber gezielt ausgeblendet.

Faschistische Parteien und Demagogen versuchen politisches Kapital aus der Krise zu schlagen, die große Teile des Kleinbürgertums deklassiert und verrückt macht. Diese verzweifelten Elemente, die sich gleichermaßen von der Arbeiterklasse wie auch von den Kapitalisten bedroht fühlen, sind unter gewissen Umständen zu großen Taten fähig, doch sie haben kein klares Programm, keine klare Perspektive, sondern sind nur getrieben vom Hass auf die herrschenden Verhältnisse. Solche Menschen sind leicht manipulierbar durch die Demagogie des Faschismus, der ihren Zorn gegen die „jüdischen“ Oligarchen, gegen Kommunisten und die Russen richtet.

Was die Menschen auf der Straße aber am wenigsten vermuten, ist, dass hinter dieser pseudo-patriotischen Demagogie in Wirklichkeit genau diese privilegierten Oligarchen stecken, gegen die sie angeblich revoltieren. Und hinter dem ganzen Gerede, die historische Größe der Ukraine wiederherzustellen, liegt in Wirklichkeit die Gefahr, dass das Land als geeintes Staatengebilde in den Untergang geführt wird. Wenn sich diese rechten Kräfte durchsetzen, dann werden letztendlich zwei blutende Brocken überbleiben, wobei der eine vom deutschen Imperialismus und der andere von der Kreml-Clique dominiert werden würde. Wie so oft würde die normale Bevölkerung die Suppe auszulöffeln haben.

Die EU und die USA

Die EU würde gerne ihr Einflussgebiet auf die Ukraine ausdehnen, gleichzeitig haben die Politiker in Brüssel und Berlin aber auch kein Interesse daran, dass die gewaltsamen Proteste dort außer Kontrolle geraten und das Land ins absolute Chaos stürzen. Die deutsche Kanzlerin hat schon genügend Sorgen mit der Krise in Griechenland und Spanien und wird wenig Freude haben, wenn sie auch noch für die Regierung in Kiew die Rechnung begleichen soll. Und genauso wenig erfreut würde sie sich bezüglich einer Flüchtlingswelle aus der Ukraine zeigen.

Andererseits hat Deutschland exzellente Beziehungen zu Russland aufgebaut. Präsident Putin sorgt dafür, dass deutsche Haushalte und Betriebe mit großen Mengen an Erdgas versorgt werden. Dies erklärt auch, warum Merkel besorgt zum Hörer griff und Putin darum bat, einen „konstruktiven Dialog“ zwischen der Opposition und der Regierung in Kiew einzufädeln. Nach dem Gespräch meinte sie gegenüber den Medien, dass „beide Seiten Verantwortung für die Stabilität des Landes übernehmen müssen.“

Dieses Verhalten der deutschen Kanzlerin sorgte in Washington dann doch für einige Irritation. Die Konflikte und Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten können manchmal aber auch lustige Formen annehmen, wie die folgende Begebenheit zeigt. In einem Audiomitschnitt, der auf YouTube gepostet wurde, hört man ein Telefonat zwischen der US-Staatssekretärin Victoria Nuland und Geoffrey Pyatt, dem US-Botschafter in der Ukraine, bei dem die aus der Sicht von Washington perfekte Lösung des Konflikts besprochen wurde: Der Oppositionspolitiker und ehemalige Außenminister Arseny Yatseniuk sollte die neue Regierung bilden. In dem Gespräch wird außerdem Merkels Favorit, der ehemalige Boxchampion Vitali Klitschko, als unerfahren beschrieben. Er müsse erst seine „politischen Hausaufgaben erledigen.“

Frau Nuland spricht von den Männern “Yats” und “Klitsch”. Die beiden beklagen sich, dass die EU in der Ukraine so „weich“ auftritt, und im Laufe des Gesprächs überkommt es Frau Nuland und sie lässt ihrem Ärger über die ausbleibenden EU-Sanktionen gegen das Regime in Kiew vollen Lauf und schreit „Fuck the EU“ in den Hörer. Die USA wollten die Authenzität dieses Audiomitschnitts nicht bestätigen, kündigten aber an, dass sich Frau Nuland bei der EU entschuldigen würde. Aber wenn es sich um eine Fälschung handeln sollte, warum entschuldigt sich dann Frau Nuland? Diese Feinheiten der bürgerlichen Diplomatie sind uns dann wohl doch nicht ganz zugänglich.

Aus unserer Sicht besteht kein Zweifel, dass die fragliche Stimme jene von Frau Nuland ist. Eine solch wenig damenhafte Sprache bringt mit absoluter Klarheit zum Ausdruck, wie Washingtons seine Verbündeten auf der anderen Seite des Atlantiks tatsächlich sieht.

Sowohl Berlin wie auch Washington würden in der Ukraine am liebsten eine Marionettenregierung installieren, doch die beiden können sich nicht auf dieselbe Marionette einigen.

Endspiel

Zwei Monate lang verweigerte Janukowitsch jedes Zugeständnis an die Opposition. Der 20. Februar brachte jedoch einen Wendepunkt. An diesem Tag stimmte das Parlament für einen Waffenstillstand. Nach einem Treffen mit EU-Vertretern erklärte der Präsident sich bereit, vorgezogene Neuwahlen abzuhalten, die Verfassung zu reformieren und eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Russland wurde bei diesem Kompromissvorschlag ausgeschlossen, der Deal kam durch Verhandlungen mit Frankreich, Deutschland und Polen zustande. Doch die Ereignisse entwickelten sich deutlich schneller als die Diplomatie. Der vorliegende Kompromiss hätte die gemäßigten Teile der Opposition wahrscheinlich noch zur Ruhe gebracht, doch für die Extremisten in der Protestbewegung wurde das nur als grünes Licht den Aufstand bis „zum Endsieg“ weiterzuführen gesehen. Sie waren nicht bereit bis zu möglichen Neuwahlen im Dezember zu warten und forderten den sofortigen Rücktritt von Janukowitsch.

Wäre dieser Kompromissvorschlag zwei Monate früher gekommen, dann wäre die Opposition anhand dieser Frage wohl gespalten worden und die Proteste wären ausgeebbt. Doch jetzt wurde dieses Zugeständnis als Zeichen der Schwäche interpretiert. Die Antwort der radikalen Kräfte auf dem Maidan ließ nicht lange auf sich warten. Die Unruhen wurden heftiger und ein Staatsgebäude nach dem anderen wurde gestürmt. In der Westukraine übernahm die Protestbewegung de facto die Macht. Die lokale Polizei schloss sich dort Großteils den Aufständischen an. Die Gefahr eines blutigen Bürgerkriegs wurde in diesen Stunden immer größer.

Der Sturz des alten Regimes wurde jetzt immer greifbarer. Die Ordnungskräfte leisteten keinen Widerstand mehr gegen die Erstürmung von zentralen Regierungsgebäuden. DemonstrantInnen war es sogar möglich die Präsidentenvilla außerhalb von Kiew zu betreten und den grotesken Luxus dort zu inspizieren. Die Ereignisse auf den Straßen Kiews änderten schlussendlich auch das Kräfteverhältnis im Parlament. Der ganze Prozess hatte längst einen kritischen Punkt erreicht und ließ sich durch einen Kompromiss unter Mitwirken der EU nicht mehr stoppen. Aus Angst alles zu verlieren, wechselte nun ein Parteigänger von Janukowitsch nach dem anderen die Seiten. Letztendlich stimmte das Parlament für die Absetzung des Präsidenten und die Abhaltung von Neuwahlen am 25. Mai.

Die Opposition hatte nun in Kiew das Sagen. Die ehemalige Premierministerin Yulia Tymoshenko wurde aus der Haft entlassen und rief ihre AnhängerInnen auf, die begonnene Arbeit zu vollenden. Die USA und die EU haben ihre Entlassung enthusiastisch bejubelt. Doch viele Menschen in der Ukraine teilen diesen Enthusiasmus nicht. Sie können sich nur zu gut daran erinnern, wie sie und andere Führer der „Orangenen Revolution“ das Land regiert haben. Es gibt sogar Berichte, dass viele Menschen den Maidan verlassen haben, als Tymoshenko das Mikro in die Hand nahm.

Konflikte in der Oligarchie

Die nationale Frage ist immer voll von Widersprüchen, und dies gilt nicht zuletzt in der Ukraine. Selbst in der Zeit vor der Oktoberrevolution wurde die ukrainische Sprache eigentlich nur in den Dörfern gesprochen, während in den Städten großteils russisch gesprochen wurde. Seit Sowjetzeiten ist der Osten der Ukraine das industrielle Zentrum des Landes. Von dort kommen die meisten der ukrainischen Oligarchen, und dort hatte auch die Partei der Regionen von Janukowitsch ihre stärkste Wählerbasis.

Es besteht nun die Gefahr, dass die Ukraine aufgespalten wird, was für die Menschen im Westen wie im Osten des Landes katastrophale Auswirkungen hätte. Die politische Elite auf der Krim, der Halbinsel am Schwarzen Meer, die einst Chrustschow (angeblich unter Alkoholeinwirkung) der Ukraine übertragen ließ, hat bereits angekündigt, dass sich diese Region Russland anschließen würden, wenn das Chaos in der Ukraine kein Ende nehmen sollte. Die russische Flotte hat auf der Krim einen wichtigen Stützpunkt, und Moskau würde nicht mit der Wimper zucken, dieses Angebot anzunehmen, wenn die USA in Kiew die Kontrolle übernehmen. Das würde die Spannungen zwischen Russland und dem Westen weiter zuspitzen.

Die herrschende Oligarchie ist unter dem Eindruck der Protestbewegung zusehends gespalten worden. Akhmetovs Vermögen wurde in den letzten Jahren unter Janukowitsch immer größer. Doch in letzter Zeit häuften sich die Befürchtungen, dass Janukowitsch eine zu große Belastung darstellt. So ließ Akhmetov auf der Homepage seiner SCM Gruppe eine Stellungnahme veröffentlichen, wo er zum politischen Dialog aufrief. Und hinter den Kulissen knüpfte er bereits gute Beziehungen zur Opposition, was als eine Art politischer Absicherung seiner Wirtschaftsinteressen gesehen werden kann.

Die Oligarchen hatten durchaus auch ihre Probleme mit Janukowitsch und “der Familie”, den privilegierten Geschäftsmännern, mit denen sich der Präsident umgeben hat. Sowohl im Westen wie auch im Osten wissen alle von der ausufernden Korruption im Land. Doch als die Demonstranten Janukowitschs Präsidentenvilla stürmten, waren sie doch überrascht vom Ausmaß des Reichtums, der dort zu sehen war. Dies ließ erahnen, wie sich der Präsident und seine Freunde auf Kosten des Landes bereichert haben. Die Menschen im Osten der Ukraine wissen natürlich genauso gut, wie korrupt die gesamte politische Elite ist. Doch auch wenn sie über den Lebensstil von Janukowitsch zornig sind, so glauben sie doch nicht, dass seine Nachfolger an der Staatsspitze auch nur einen Deut besser seien.
Das Misstrauen gegen die politische Klasse in Kiew ist stärker als die Befriedigung über den Sturz des alten Präsidenten. Wenn im Osten Kritik an Janukowitsch aufkommt, dann vor allem, dass er unfähig war die Proteste im Keim zu ersticken. Die Ukraine ist heute ein gespaltenes Land, mit zwei unterschiedlichen Sprachen, zwei unterschiedlichen Denkweisen und zwei unterschiedlichen Interpretationen der jüngsten Ereignisse. Das ist eine äußerst gefährliche Situation, die extreme Konsequenzen für die Zukunft des Landes haben könnte.

Russland und Ukraine

Amerikanische und EU-Diplomaten trachten danach, ihren Einfluss in Kiew auszuweiten. Doch die EU hat in der Vergangenheit eine wichtige Lektion gelernt: Wenn man mit dem Feuer spielt, verbrennt man sich früher oder später die Finger. Das anhaltende Chaos in der Ukraine bedroht auch die wirtschaftliche und politische Stabilität der EU selbst. Deshalb will die EU in der Ukraine unbedingt einen Kompromiss durchsetzen, der auf die Bildung einer neuen technokratischen Regierung hinauslaufen soll.

Die Idee, dass engere Beziehungen zur EU, zum Wohl der ukrainischen Bevölkerung sein könnten, widerspricht schlicht und ergreifend der Realität. Die EU wird kaum große Finanzmittel für die Ukraine zur Verfügung stellen können, da sie mit ihren eigenen finanziellen Problemen zu kämpfen hat. Deshalb bleibt sie auch sehr vage bei ihren Versprechungen. Geld soll es erst geben, wenn „die Demokratie in der Ukraine hergestellt ist“. Das allein schon zeigt, wie unehrlich die EU in dieser Frage ist. Merkel ist nicht bereit Griechenland Geld zu überweisen. Warum soll sie bei der Ukraine großzügiger sein?

Deshalb hofft die EU auch auf Unterstützung seitens der USA in Form von IWF-Geldern. Ein Rettungspaket aus den Mitteln des IWF würde natürlich mit drakonischen Bedingungen einhergehen, wie wir sie bereits aus Griechenland kennen. Die öffentlichen Ausgaben müssten massiv gekürzt, die Steuern erhöht und Subventionen gestrichen werden. Der IWF fordert schon jetzt einen deutlichen Anstieg der Energiepreise um rund 40 Prozent. In anderen Worten: dieses Programm würde zu noch mehr Armut und Elend führen. Aber was bliebe dann noch von der nationalen Souveränität der Ukraine, wenn alle wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen von einer Kabale aus europäischen und US-amerikanischen Bankern getroffen würden?

Im Gegenzug zu den Ambitionen der EU und der USA versucht natürlich Russland Druck aufzubauen, damit sein Nachbarland nicht auf Abwege gerät. Putin strebt als Gegenstück zur EU einen Gemeinsamen Eurasischen Markt an. Ohne die Ukraine wäre dieser Plan aber zum Scheitern verurteilt. Auch nach dem Sturz von Janukowitsch verfügt Moskau aber noch über wichtige Hebel, um in der Ukraine die eigenen Interessen durchzusetzen. Moskau übt auch harte Kritik an Washington und Brüssel für deren Unterstützung der Opposition mit Geld und Waffen. Russland hat mittlerweile seinen Botschafter abgezogen und machte klar, dass es die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine beschützen wird. Das letzte Mal, dass so eine Sprache verwendet wurde, war kurz vor dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien.

Solch eine Entwicklung ist nicht ausgeschlossen, aber noch hat Putin andere Waffen in seinem Arsenal. Die Lieferungen mit billigem russischen Erdgas und Geldspitzen aus Moskau sind die einzigen Dinge, die die ukrainische Wirtschaft vor einem totalen Zusammenbruch bewahren. Die Vorstellung, Moskau würde für die Schulden einer Regierung in Kiew geradestehen, die seinen eigenen Interessen völlig feindlich gegenüber steht, wäre völlig absurd. In der Tat hat Russland bereits mit dem Aussetzen jeglicher Unterstützung für die Ukraine gedroht. Jede Annäherung an die EU würde Putin mit höheren Zöllen auf ukrainische Exporte nach Russland beantworten. Wenn Russland die Zurückzahlung der Schulden einfordern würde, wäre die ukrainische Wirtschaft am Ende. Die Folgen wären katastrophal.

Doch es ist auch ein Szenario denkbar, das zum völlig Auseinanderbrechen der Ukraine als geeintes Staatsgebilde führen könnte. Von Stabilität kann jedenfalls keine Rede sein, und die Lage könnte sich weiter zuspitzen. Die Bruchlinien in der ukrainischen Gesellschaft sind mittlerweile so tief, dass ein Auseinanderbrechen des Landes nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Doch das würde mit einem schrecklichen Blutbad einhergehen.

Putin und seine Ratgeber werden diese Option sicherlich schon durchspielen. Wenn Russland Gefahr läuft die gesamte Ukraine zu verlieren, könnten sie durchaus auf den Gedanken kommen, den Osten des Landes mitsamt der dort ansässigen Industrie, dem Bergbau und der fruchtbaren Landwirtschaft abzuspalten. Dann würde sich die Katastrophe beim Ende Jugoslawiens wiederholen.

Welche Lösung?

Während ich diese Zeilen schreibe, ist unklar, welches Schicksal Janukowitsch ereilen wird. Er hat die Ereignisse in Kiew als Putsch bezeichnet und angekündigt, dass er nicht auf sein Amt verzichtet. Auch wenn Putin und die Oligarchie ihn fallen lassen, klar ist, dass die Autorität der neuen Regierung in Kiew nicht bis nach Donezk reicht. Die angestrebte Regierung der „nationalen Einheit“ wird so ihrer Rolle nicht gerecht werden.

Janukowitschs Partei der Regionen ist die Partei der ostukrainischen Stahlmagnaten, die über enge Beziehungen zu Russland verfügen. Sie sind abhängig vom russischen Markt und lehnen engere Verbindungen zur EU ab, weil dies ihren wirtschaftlichen Interessen entgegensteht. Das ist auch ein ausschlaggebendes Argument für die Arbeiterschaft im Osten des Landes. Obwohl diese die Oligarchen hassen und dem Präsidenten und seiner Partei auch keine große Zuneigung entgegenbringen, fürchten sie, dass jede derzeit greifbare Alternative die Lage nur verschlimmern würde.

Hätte sich die Protestbewegung einfach gegen die vorherrschende Korruption gerichtet und nicht auf ukrainischen Nationalismus sowie auf pro-westliche und anti-russische Stimmungen gesetzt, dann hätte sie auch unter der Industriearbeiterschaft in der Ostukraine an Einfluss gewinnen können. Das hätte die Situation vollkommen verändert. Doch die russisch sprachige Bevölkerung warf einen Blick auf die faschistischen Fahnen auf dem Maidan und die Zerstörung von Lenin-Statuen und wandte sich von der Bewegung ab.

Die größte Schwäche der Bewegung war das völlige Fehlen einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse. Es gab mehrere Versuche einen landesweiten Streik zu organisieren, doch diese scheiterten allesamt. Die überwältigende Mehrheit der ArbeiterInnen lehnt die Oligarchie und das korrupte politische Regime ab, aber sie sehen sich auch nicht von der EuroMaidan-Bewegung repräsentiert und nahmen daher eine passive Haltung ein. Im Osten herrscht vor allem Skeptizismus vor. Wenn man den ArbeiterInnen dort sagt, dass Janukowitsch korrupt ist, werden sie einfach antworten: „Und wer ist nicht korrupt?“ Diese Stimmung hat einen guten Grund, denn die Erinnerungen an die „Orangene Revolution“ sind noch sehr lebendig. Aus ihrer Sicht werden durch solche Ereignisse nur die Köpfe an der Spitze des Staates ausgetauscht und für die Bevölkerung wird es nicht besser, sondern sogar schlechter, nachdem das Land noch tiefer in den Sumpf von Korruption und Chaos geschlittert ist.

Auf einer kapitalistischen Grundlage sind die Aussichten für die Menschen in der Ukraine duster. Gibt es einen anderen Weg, der die Einheit und Unabhängigkeit der Ukraine sicherstellen könnte? Es gibt in dieser Situation keine einfachen Lösungen. Solange Politik in der Ukraine nicht viel mehr ist als ein ständiges Hin und Her zwischen verschiedenen Flügeln ein und derselben Oligarchie, wird sich nichts zum Positiven ändern. Die Arbeiterklasse darf in keine bürgerliche Kraft und auch nicht in den Staat als Gesamtes ihr Vertrauen setzen. Das wird nur zu einem Verrat nach dem anderen führen.
Das zentrale Problem, vor dem wir in der Ukraine stehen, ist das der Führung der Arbeiterbewegung. Wäre die Kommunistische Partei eine Partei, die diesen Namen verdienen würde, wäre eine Lösung in Sicht. Doch die KP spielte eine verheerende Rolle. Sie hat keinen Kampf gegen die Oligarchie geführt und steht schon lange nicht mehr für eine sozialistische Perspektive. Dies erklärt, warum sie heute eine derart unbedeutende Rolle spielt. Im Zuge der Ereignisse wird die Arbeiterklasse zu dem Verständnis kommen, warum es eine genuine Kommunistische Partei braucht – eine Partei, die in der Tradition der Oktoberrevolution und der Bolschewiki steht: das einzige Programm, das der Ukraine und ihrer Bevölkerung eine Zukunft eröffnen kann.

Die einzige wirkliche Alternative zur Herrschaft der Oligarchen ist eine demokratische, sozialistische Ukraine, in der das Land, die Banken und die Industrie von der Arbeiterklasse kontrolliert werden und der Reichtum des Landes im Interesse aller eingesetzt wird. Ein solches Programm wäre auch imstande die Widersprüche zwischen Ost und West aufzuheben und die Arbeiterklasse gegen die parasitäre Oligarchie zu vereinen. Eine erste Maßnahme müsste in der sofortigen Verhaftung der Oligarchen und der Enteignung ihres Vermögens und Eigentums liegen. Was sie über Jahre gestohlen haben, sollte der Allgemeinheit wieder zurückgegeben werden. Diese Ressourcen werden dringend benötigt zur Finanzierung der Entwicklung der ukrainischen Ökonomie auf der Grundlage einer demokratischen Planwirtschaft.

Der zweite Schritt sollte die Streichung aller Schulden sein, welche die Oligarchen und ihre politischen Marionetten ausverhandelt haben. Die ukrainische Bevölkerung trägt keine Verantwortung für die windigen Abkommen der herrschenden Elite, und es gibt daher auch keinen Grund, warum sie diese Schulden zahlen soll. Der Reichtum, der von den ukrainischen ArbeiterInnen geschaffen wird, muss endlich der Bevölkerung zugutekommen.

Besser als alle anderen verstehen die UkrainerInnen, dass sie nicht alleine bestehen können. Die reaktionär-utopische Idee des „Sozialismus in einem Land“ hat Russland und die Ukraine in die Sackgasse geführt hat in der sie sich jetzt befinden. Die Ukraine muss die Ökonomie mit jener der Nachbarländer integrieren, aber das muss auf der Grundlage von Gleichberechtigung, Solidarität und Freundschaft passieren und nicht weil ein Land das andere unterdrückt und sie sich gegenseitig dominieren. Eine solidarische Beziehung zwischen der Ukraine und Russland ist eine absolute Notwendigkeit und ergibt sich aus der Geschichte und der engen Verflochtenheit seiner Volkswirtschaften. Die Probleme entstanden erst, als sich die Ukraine von ihren mächtigeren Brüdern dominiert fühlte. Das war niemals Lenins Position. Der bolshevismus steht für ehrlichen Internationalismus. Die frühe Sovjetunion wurde auf Grundlage der Idee eines proletarischen Internationalismus, Freundschaft und absoluter Gleichberechtigung gegründet. Es ist notwendig zu diesen Prinzipien zurückzukehren.

Russland wird wie die Ukraine von einer privilegierten und korrupten Oligarchie beherrscht. Ihr einziger Maßstab sind ihre eigenen Interessen. Wenn die ArbeiterInnen in der Ukraine die Macht übernehmen würden, dann würde das Putin-Regime ebenfalls in gewaltige Schwierigkeiten kommen. Das Programm der sozialistischen Internationale – das Programm Lenins – würde für alle Menschen in der Ehemaligen Sovjetunion die Möglichkeit eröffnen mit der kapitalistischen Sklaverei zu brechen und gemeinsam eine wirklich freie und gleiche sozialistische Föderation zu gründen.

Sobald die Arbeiterklasse die Oligarchie entmachtet hat und die unvorstellbaren Ressourcen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion planmäßig zusammengeführt werden, wäre ein enormer wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt möglich. Unter solchen Bedingungen wären es die Menschen in der EU und in Amerika die einen neidischen Blick auf den Osten werfen, und auf die Straße gehen würden um zu verlangen, dass Europa der sozialistischen Föderation beitreten soll.

Die Bedingung dafür ist, dass die ArbeiterInnen in der Ukraine die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Dann können sie damit beginnen die Probleme zu lösen. Sie sollten die russischen ArbeiterInnen auffordern ihrem Beispiel zu folgen: Im Namen von Lenin! Im Namen des Sozialismus! Im Namen der Arbeiterklasse! Das ist der einzige Weg nach vorne.

Erstellt am Dienstag, 11. März 2014

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