Venezolanische Gewerkschafter diskutieren über Arbeiterverwaltung und Fabrikbesetzungen

German translation of Venezuelan trade unionists discuss workers’ management and factory occupations by Jorge Martin (October 24, 2005)
Arbeitervertreter und Gewerkschaftsaktivisten aus dem gesamten Land trafen sich vom 21.- 22. Oktober in Caracas zu einer nationalen Versammlung der ArbeiterInnen für die Wiederinstandsetzung von Firmen...

Das Hauptziel des vom venezolanischen Gewerkschaftsbund UNT einberufenen Treffens bestand darin, ArbeiterInnen, die Erfahrungen bei der Besetzung von Betrieben und den verschiedenen Formen der Arbeiterverwaltung gesammelt hatten, zusammenzubringen.

Die Versammlung wurde einberufen, um das erste lateinamerikanische Treffen von Fabriken, die von ArbeiterInnen wieder instand gesetzt wurden, das vom 27.- 29. Oktober in Caracas stattfindet, vorzubereiten. Das lateinamerikanische Treffen wird gemeinsam von Arbeitern in besetzten Fabriken in Brasilien, Argentinien, Uruguay sowie dem venezolanischen Gewerkschaftsbund UNT und dem uruguayischen Gewerkschaftsverband PITCNT organisiert und vom Arbeitsministerium Venezuelas unterstützt. ArbeiterInnen aus besetzten und wieder instand gesetzten Firmen aus Argentinien, Brasilien, Uruguay, Peru, Ecuador, Puerto Rico und Panama werden daran teilnehmen.

An der nationalen Versammlung nahmen ArbeiterInnen von Invepal (früher Venepal) teil, wo die Beschäftigten für die Enteignung der Papierfabrik, die von ihren früheren Eigentümern für bankrott erklärt worden war, und die Einführung der Arbeiterkontrolle gekämpft hatten. Außerdem waren Vertreter der Ventilfabrik Inveval (früher CNV) anwesend, welche die ArbeiterInnen zwei Jahre lang besetzt hielten. Ihnen gelang schließlich die Enteignung der Firma und die Einführung einer Art Arbeiterverwaltung. Außerdem nahmen ArbeiterInnen der Elektrizitätserzeugungs- und Vertriebsgesellschaft CADAFE teil, die sich in Staatsbesitz befindet und in der Bestrebungen der ArbeiterInnen, die cogestion (wie die Arbeiterverwaltung hier genannt wird) einzuführen, mit den Versuchen des Managements, die eigene Entscheidungsgewalt zu erhalten, aufeinandergeprallt sind. Insgesamt waren 200 Werktätige aus dem gesamten Land, sowohl aus dem öffentlichen als auch dem privaten Sektor, anwesend.

Einer der ersten Sprecher war Eduardo Murua, der Präsident der argentinischen "Bewegung wiederinstandgesetzter Betriebe (MNER)". Er bezeichnete die Erfahrungen mit Fabrikbesetzungen als eine Alternative zu Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzvernichtung. Er betonte in seiner Rede, dass die ArbeiterInnen sich nur auf ihren eigenen Kampf und ihre eigene Kraft verlassen können und gab den venezolanischen ArbeiterInnen den Rat, die Initiative selbst zu ergreifen und nicht zu warten bis die Regierung ihnen grünes Licht gebe. Er legte dar, dass im Falle der Betriebsschließung durch die Unternehmer, "die ArbeiterInnen diese besetzen sollten und versuchen sollten, die Produktion in Gang zu setzen, rechtliche Aspekte könnten später diskutiert werden". Er erklärte ebenfalls, wie es der MNER gelungen ist, höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten als in ähnlichen Betrieben im privaten Sektor zu erreichen und brachte die gemachten Erfahrungen mit den Kämpfen der Werktätigen in privaten kapitalistischen Unternehmen für gleiche Bedingungen damit in Verbindung.

Arbeitsministerin: Fabrikbesetzungen sind kein Problem, sondern die Lösung eines Problems

Arbeitsministerin Maria Cristina Iglesias nahm auch an der Versammlung teil. Sie erklärte, wie die Idee für ein lateinamerikanisches Treffen von den ArbeiterInnen selbst gekommen war, besonders von denen aus wieder instand gesetzten Betrieben in Argentinien, Brasilien und Uruguay. Sie waren es, die zusammen mit einigen lateinamerikanischen Gewerkschaften bei Präsident Chávez angefragt hatten, ob Venezuela Gastgeber eines solchen Treffens sein könnte. Iglesias sagte, dass die Besetzung verlassener Fabriken und die Wiederaufnahme der Produktion nicht "als Problem, sondern als Lösung eines Problems" gesehen werden sollte, dass durch die Bosse verursacht wurde, die diese Firmen dicht gemacht hätten. Sie fügte hinzu, dass ein Nichthandeln in einem solchen Fall mit "einem Hungertod im Supermarkt, wo man es nicht wagt, eine Dose Ölsardinen zu öffnen", zu vergleichen sei. Sie betonte, dass es ein Verbrechen sei eine Fabrik zu schließen, solange es Arbeitslosigkeit gebe.

Sie unterstrich die Bedeutung des lateinamerikanischen Treffens, da dieses bedeute, "dass diese Kämpfe nicht länger isoliert stattfinden". Sie erklärte, dass das Treffen drei Hauptachsen habe, eine für die ArbeiterInnen in besetzten Betrieben, die ihre Erfahrungen austauschen und politische Schlussfolgerungen ziehen können., eine weitere für Gewerkschaften, die sich ebenfalls zusammenschließen können, um zu diskutieren, wie sie diese Kämpfe unterstützen und schließlich eine, in der Regierungen und Parlamentarier aus verschiedenen Ländern den juristischen Rahmen dieser Bewegung von Betrieben, die von Arbeitern geleitet werden, diskutieren können. Auf dem Treffen werden Videos und Bilder von besetzten Betrieben auf dem lateinamerikanischen Kontinent gezeigt. "Sie zeigen diese Beispiele nicht, weil sie sich besonders fürchten", sagte Iglesias, die erklärte, es gebe auch in den USA Beispiele für Firmen, die von Arbeitern wieder instand gesetzt wurden. "Wir sollten dabei niemals unsere Herkunft und unsere Klasse aus den Augen verlieren."

Ministerin Maria Cristina Iglesias erklärte, wie der Kampf der von ArbeiterInnen wieder instand gesetzten Betriebe "mit einem unserer Ziele in Verbindung gebracht wird, dass nämlich die ArbeiterInnen die Produktion selbst leiten und die Regierung ebenfalls von ArbeiterInnen geführt wird."

Es wurden Beispiele gegeben, wie die von ArbeiterInnen instand gesetzten Betriebe über Grenzen hinweg kooperieren können. So könnte zum Beispiel die Papierfabrik Invepal mit Werktätigen in von ArbeiterInnen geleiteten Druckereibetrieben in Argentinien zusammenarbeiten. Die ArbeiterInnen in der besetzten Fabrik Cipla in Brasilien könnten ihre Rohstoffen bei der Firma Pequiven, die sich in venezolanischem Staatsbesitz befindet, kaufen und anschließend ihre Produkte and die staatliche venezolanische Ölindustrie PDVSA verkaufen. Viele solcher Beispiele wurden diskutiert, aber es wurde auch betont, dass diese nicht nur als kommerzielle Tauschgeschäfte gesehen werden sollten, sondern alle betroffenen Gruppen von ArbeiterInnen davon durch Ausbildung, Technologietransfer usw. profitieren sollten.

Arbeiterverwaltung in strategischen Industrien

Ein weiterer Redner in Caracas war Professor Mike Lebowitz. Er ging auf die momentan in Venezuela stattfindenden Diskussionen über die Arbeitermitverwaltung ein. Er erklärte deren Schlüsselrolle für die bolivarische Revolution: "Nichts wird die Feinde dieses Prozess glücklicher machen als das Scheitern des venezolanischen Weges zur Arbeitermitverwaltung, denn vor allem die ArbeiterInnen in Lateinamerika, aber auch anderswo, beginnen die Entwicklung der Arbeitermitverwaltung als echte Alternative zum Despotismus an ihren Arbeitsplätzen zu betrachten". Er verdeutlichte auch die Unterschiede zwischen der Arbeitermitverwaltung in Venezuela und der Mitbestimmung in Deutschland, wo "diese als Mittel benutzt wird, die ArbeiterInnen in das Projekt des Kapitalismus einzubeziehen ... während jedoch die Arbeitermitverwaltung in Venezuela eine Alternative zum Kapitalismus darstellt."

Lebowitz diskutierte ebenfalls die Fehler der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, wo "das Blickfeld der ArbeiterInnen in jeder Firma auf ihre eigenen Interessen gerichtet war" und "ein Sinn für Solidarität mit der Gesellschaft als Ganzes fehlte". Als Folge davon führte dieses System in Jugoslawien dazu, "dass die Ungleichheit zunahm, die gesellschaftliche Solidarität versagte und es schließlich zur Zersplitterung Jugoslawiens kam". Er erklärte, dass die Arbeitermitverwaltung in Venezuela bemüht sei, "diesen speziellen Fehler zu vermeiden ... sie betont, dass die Betriebe nicht den ArbeiterInnen allein gehören - sie sind dafür bestimmt im Interesse der gesamten Gesellschaft geführt zu werden."

Unter anderem brachte Mike Lebowitz seine Meinung zur Debatte über die Existenz der Arbeitermitverwaltung in strategischen Industrien deutlich zum Ausdruck. "Wenn Industrien wie die Ölproduktion und die Erzeugung und der Vertrieb von Strom von der Arbeitermitverwaltung ausgeschlossen werden, was bedeutet das für die ArbeiterInnen in diesen Industrien?" fragte er. "Dass wir den ArbeiterInnen nicht die Fähigkeiten zutrauen, im Interesse der Gesellschaft Entscheidungen zu fällen? Welche Vision des Sozialismus im 21. Jahrhundert ist das?" Er fügte dann hinzu: "Wenn tatsächlich wichtige Entscheidungen auf der Tagesordnung stehen, dann heißt die Antwort in diesem Fall Kapitalismus oder Staatskapitalismus, nicht aber Arbeitermitverwaltung oder Sozialismus des 21. Jahrhunderts."

Lebowitz erklärte, dass diese Widersprüche und andere normal und Bestandteil des Prozesses seien und "durch demokratische Diskussionen, Überzeugung und Bildungsarbeit" überwunden werden könnten. Er schloss seine Rede mit den Worten: "Nichts wird die Gegner der bolivarischen Revolution unglücklicher machen als der Erfolg der Arbeitermitverwaltung."

ArbeiterInnen müssen auf ihre eigene Kraft vertrauen

Luis Primo aus der Caracas-Miranda Regionalgruppe der UNT und Mitglied der Revolutionären Marxistischen Strömung gab in seiner Rede einen kurzen Abriss über die Geschichte des Kampfes für die Arbeiterverwaltung. Er ging auch auf die Zerstörung der verarbeitenden Industrie in Venezuela ein. Zahlen zufolge, die er nannte, gab es 1999 12.000 verarbeitende Unternehmen im Lande, diese Zahl ist aber heute auf 7000 zurückgegangen, das bedeutet den Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen. Gleichzeitig sind 90% aller venezolanischen Firmen im Dienstleistungsbereich tätig. Diese extreme Situation beruht auf der Tatsache, dass "die Kapitalisten kein weiteres Interesse an der Produktion haben", wenn sie mit Spekulationen schneller Gewinne einfahren können. Luis Primo betonte in seiner Rede, dass die Arbeiter sich nur auf ihre eigene Kraft und ihren eigen Kampf verlassen können. Er schlug vor, dass der UNT in jeder Region Arbeitsgruppen einrichten solle, um die Besetzung und Wiederinstandsetzung von stillgelegten Fabriken zu organisieren. Er beendete seinen Vortrag mit dem Marx-Zitat "Die Befreiung der Arbeiter kann nur die Sache der Arbeiterklasse selbst sein."

Neben den interessanten Beiträgen verschiedener Sprecher war der Hauptaspekt dieses Treffens der Eifer der Arbeitervertreter, sich an den Diskussionen zu beteiligen. Dutzende stellten sich in die Schlange, um über den Kampf in ihren Betrieben zu berichten, über Probleme mit Direktoren im öffentlichen Sektor beim Versuch verschiedene Formen der Arbeitermitverwaltung einzuführen und über weitere Pläne, von den Bossen stillgelegte Betriebe zu übernehmen. Anwesend waren auch ArbeiterInnen aus der kürzlich wiedereröffneten Fabrik Zulia, die Rohre für die Ölindustrie fertigt sowie ArbeiterInnen aus der privaten Ölraffinerie Oxydor in Valencia, die für die Enteignung und Einführung der Arbeitermitverwaltung kämpfen und schließlich ArbeiterInnen aus verschiedenen Fabriken des multinationalen Konzerns Parmalat, welche die gleichen Forderungen stellen.

Wenn auch einige wichtige Gruppen von ArbeiterInnen nicht an dem Treffen teilnahmen, so zeigte doch die Stimmung der Anwesenden deutlich, dass die Enteignungen von Venepal und CNV Anfang des Jahres die Tore geöffnet hat und viele Gruppen von ArbeiterInnen im ganzen Land auf diese als nachahmenswerte Beispiel schauen. Bezeichnenderweise waren alle Notizbücher, welche die Teilnehmer des Treffens bei ihrer Anmeldung erhielten, bei Invepal unter Arbeiterverwaltung hergestellt worden.