MarxistInnen und die Fünfte Internationale

Der Aufruf von Präsident Hugo Chávez zur Gründung einer neuen revolutionären Internationale, die Fünfte Internationale, hat in den Reihen der ArbeiterInnenbewegung in Lateinamerika aber auch weit darüber hinaus eine leidenschaftliche Debatte ausgelöst. MarxistInnen können in dieser Frage nicht gleichgültig bleiben. Welche Haltung sollten sie gegenüber dieser Initiative einnehmen?

Die erste Frage, die zu beantworten ist: brauchen wir eine Internationale? Der Marxismus ist von Grund auf eine internationalistisch, oder er ist gar nicht. Schon am Beginn unserer Bewegung schrieben Marx und Engels auf den Seiten des Kommunistischen Manifests: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“.

Der Internationalismus von Marx und Engels war nicht nur eine Idee oder das Resultat sentimentaler Überlegungen. Vielmehr erkannten sie, dass sich der Kapitalismus als ein weltweites System entwickelt – aus den verschiedenen nationalen Volkswirtschaften und Märkten entstand ein einziges, unsichtbares Ganzes, der Weltmarkt, in dem die einzelnen Teile voneinander abhängig sind.

Diese Prognose der Gründerväter des Marxismus wurde mittlerweile auf bemerkenswerte Weise durch die kapitalistische Entwicklung der letzten 160 Jahre bestätigt. Der Weltmarkt ist heute das dominierende Element unserer Epoche. Kein einziges Land auf dieser Erde, egal wie groß und mächtig es auch sein mag – weder die USA. Noch China, noch Russland – können sich dem Druck des Weltmarkts entziehen. Das war in der Tat auch eine der Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion.

Die Erste und Zweite Internationale

Marx und Engels waren selbst an der Herausbildung der Ersten Internationale beteiligt, die eine Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen darstellte. Schon der Bund der Kommunisten war von Anfang an eine internationale Organisation, doch die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA, der Ersten Internationale) im Jahre 1864 bedeutete einen qualitativen Schritt vorwärts. Die historische Aufgabe der Ersten Internationale war es die wichtigsten Prinzipien, das Programm, die Strategie und Taktik des revolutionären Marxismus zu errichten. Dich die IAA war alles andere als eine marxistische Internationale sondern eine äußerst heterogene Organisation, die sich unter anderem aus reformistischen Gewerkschaftern in Britannien, den Proudhonisten aus Frankreich, den Anhängern von Mazzini aus Italien sowie den AnarchistInnen zusammensetze. Marx und Engels versuchten mittels einer Kombination aus Prinzipienstärke und großer taktischer Flexibilität Schritt für Schritt die Mehrheit in der IAA zu erlangen.

Die IAA war insofern erfolgreich, als dass sie die theoretischen Grundlagen einer genuinen revolutionären Internationale legte. Doch sie war nie eine wirkliche Massenorganisation der ArbeiterInnenklasse. Die Sozialistische (oder Zweite) Internationale wurde 1889 ins Leben gerufen und setzte dort fort, wo die Erste Internationale aufgehört hatte. Anders als die IAA war die Zweite Internationale von Anfang an eine Masseninternationale, die sich aus Parteien zusammensetzte, in denen Millionen ArbeiterInnen organisiert waren. In Deutschland, Belgien, Frankreich, Britannien, Österreich usw. verfügte sie über Massenparteien und Gewerkschaften. Zumindest in Worten stand sie auf der Grundlage des revolutionären Marxismus. Die Zukunft des Weltsozialismus schien angesichts dieser Stärke garantiert.

Doch die Zweite Internationale wurde im Zuge einer langen Periode des kapitalistischen Aufschwungs gegründet, was dem Bewusstsein der führenden Schichten der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften den Stempel aufdrücken sollte. Die Zeit zwischen 1871 und 1914 war die klassische Periode der Sozialdemokratie. Auf der Grundlage eines langanhaltenden Wirtschaftswachstums war es dem Kapitalismus möglich der ArbeiterInnenklasse, oder genauer gesagt, den obersten Schichten der Klasse, Zugeständnisse zu machen.

Die Herausbildung einer zahlenmäßig sehr starken Kaste von Gewerkschaftsfunktionären, Parteibürokraten und Parlamentariern führte zu einem Degenerationsprozess, in dem sich die Bürokratie zusehends über die Massen und die eigene Parteibasis erhob. Graduell und fast nicht fassbar fielen die revolutionären Ziele unter den Tisch. Die Führer der ArbeiterInnenbewegung wurden von der täglichen Routine der parlamentarischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit aufgesogen. Und in der Folge wurden Theorien entwickelt, um die Aufgabe der ursprünglichen Prinzipien zu rechtfertigen.

Das war die materielle Basis für die nationalistisch-reformistische Degeneration der Zweiten Internationale, die 1914 auf die schändlichste Art und Weise zum Vorschein kam, als die Führer der Internationale für die Kriegskredite stimmten und „ihre” Bourgeoisie im imperialistischen Gemetzel des Ersten Weltkriegs unterstützten.

Die Dritte Internationale

Lenin und Trotzki standen an der Spitze der Dritten Internationale, bevor diese degenerierte. Die Dritte (Kommunistische) Internationale stand qualitative auf einem viel höheren Niveau als ihre beiden Vorgängerinnen. Wie die IAA auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung stand auch die Komintern für ein klar revolutionäres, internationalistisches Programm. Wie die Zweite Internationale verfügte auch sie über eine Massenbasis in der ArbeiterInnenklasse. Einmal mehr schien das Schicksal der Weltrevolution in guten Händen zu liegen.

Unter der Führung von Lenin und Trotzki hielt die Komintern an einer korrekten Linie fest. Doch die Isolation der Russischen Revolution unter den Bedingungen einer unvorstellbaren materiellen und kulturellen Rückständigkeit führte zur bürokratischen Degeneration der Revolution. Die bürokratische Fraktion unter der Führung von Stalin gewann Schritt für Schritt die Oberhand und festigte nach dem Tod Lenins im Jahre 1924 ihre Macht.

Leo Trotzki und die Linke Opposition versuchten die Traditionen der Oktoberrevolution gegen die stalinistische Reaktion zu verteidigen – die Arbeiterdemokratie und den proletarischen Internationalismus. Doch in diesem Bestreben schwammen sie gegen den Strom. Die russischen ArbeiterInnen waren nach Jahren des Krieges, der Revolution und des Bürgerkriegs ausgelaugt und erschöpft. Auf der anderen Seite fühlte sich die Bürokratie in zunehmendem Maße selbstsicher, schob die ArbeiterInnen zur Seite und übernahm die Kommunistische Partei.

Mit Lenins schwerer Erkrankung und letztlich seinem Tod war für die Bürokratie der Zeitpunkt gekommen, um mit Stalin und Bucharin einen Rechtskurs zu fahren. Sie versuchte mit den Kulaken und den pro-kapitalistischen Elementen in der russischen Gesellschaft ein Auskommen zu finden, und auf internationaler Ebene suchte sie ein Bündnis mit sogenannten progressiven bürgerlichen Kräften in der kolonialen Welt (wie z.B. Tschiang Kai-Schek in China) und der reformistischen Bürokratie im Westen (z.B. in Form des Anglo-Swojetischen Komitees). Diese opportunistische Politik führte in die blutige Niederlage der Chinesischen Revolution und war der Grund, warum in Britannien 1926 eine wichtige Chance vergeben wurde – wie schon zuvor 1923 in Deutschland.

Mit jeder Niederlage der internationalen Revolution nahmen Enttäuschung und Demoralisierung unter den russischen ArbeiterInnen zu, und die Bürokratie und die stalinistische Fraktion in der Partei wurde noch starker und selbstsicherer. Nach der Niederlage der Linken Opposition (1927) brach Stalin, der sich in der Zwischenzeit mit seiner gegenüber den Kulaken sehr freundlichen Politik die Fingern verbrannt hatte, mit Bucharin und machte einen linksradikalen Schwenk. Er setzte auf eine Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in Russland und drückte der Komintern die wahnsinnige Politik der “Dritten Periode” auf.

Trotzki und seine Anhänger, die Bolschewiki-LeninistInnen, wurden aus der KP und der Komintern ausgeschlossen, und in der Folge verfolgt, eingesperrt und ermordet. Stalin zog aus Blut eine Grenzlinie zwischen der Bürokratie, die sich der Oktoberrevolution bemächtigt und diese verraten hat, und den TrotzkistInnen, die die tatsächlichen Ideen und Traditionen des Bolschewismus-Leninismus und der Revolution verteidigten.

Die Internationale Linke Opposition

Das gewaltige Potential der Dritten Internationale wurde durch den Aufstieg des Stalinismus in Russland jedoch zerstört. Die stalinistische Degeneration der Sowjetunion richtete in den noch jungen Kommunistischen Parteien in den anderen Ländern verheerenden Schaden an. Viel zu unreif waren deren Führungen, um diesem Druck standhalten zu können. Während Lenin und Trotzki in der internationalen Ausweitung der Revolution die einzige Möglichkeit sahen, um die Russische Revolution und den Sowjetstaat zu verteidigen, maßen Stalin und seine UnterstützerInnen der Weltrevolution keine große Bedeutung bei. Die „Theorie“ von Sozialismus in einem Land brachte die nationale Begrenztheit in der Herangehensweise der Bürokratie, welche die Kommunistische Internationale rein als Instrument der Außenpolitik Moskaus betrachtete.

Nirgends war das Ergebnis dieser Politik so fatal wie in Deutschland. Trotzki rief zur Bildung einer Einheitsfront der kommunistischen und sozialdemokratischen ArbeiterInnen im Kampf gegen die nationalsozialistische Bedrohung auf. Doch seine Warnungen fielen bei den Mitgliedern der KP auf taube Ohren. Die deutsche ArbeiterInnenklasse blieb gespalten. Die irrsinnige „Sozialfaschismustheorie“ spaltete und lähmte die mächtige deutsche ArbeiterInnenbewegung und ermöglichte die Machtergreifung von Hitler im Jahre 1933.

Die Niederlage der deutschen ArbeiterInnenklasse 1933 war ein Wendepunkt. Trotzki zog daraus den Schluss, dass eine Internationale, die sich als unfähig erwies angesichts einer solchen Bedrohung einen Kurswechsel einzuleiten, abzuschreiben sei und dass daher eine neue revolutionäre Internationale geschmiedet werden muss. Die Geschichte sollte ihm Recht geben. 1943 wurde die Komintern still und heimlich, ohne einen Kongress einzuberufen, zu Grabe getragen, nachdem sie zuvor von Stalin auf zynische Art und Weise als Instrument für Moskaus Außenpolitik missbraucht worden war. Das politische und organisatorische Erbe von Lenin hat dadurch über eine ganze geschichtliche Periode einen schweren Rückschlag erlitten.

Die Vierte Internationale

Trotzki gründete, nachdem die Komintern in vielen Ländern versagt hatte, die Vierte Internationale. Diese Arbeit erfolgte unter extreme schwierigen Bedingungen im Exil, von den Stalinisten verleumdet und von der GPU verfolgt. Trotzki versuchte die kleinen Kräfte, die den wahren Traditionen des Bolschewismus und der Oktoberrevolution treu geblieben waren, neu zu gruppieren. Leider waren diese Kräfte nicht nur zahlenmäßig sehr schwach. Viele Anhänger der Linken Opposition waren verwirrt, es fehlte ihnen an einer klaren politischen Orientierung, und sie hatten einen Hang zu linksradikalem Sektierertum. Das spiegelte teilweise die Isolation der TrotzkistInnen von der Massenbewegung wider. Dieses Sektierertum ist bis zum heutigen Tag noch in den meisten Gruppen, die ein trotzkistisches Selbstverständnis haben anzutreffen.

Trotzki gründete 1938 die Vierte Internationale auf Basis einer ganz bestimmten Perspektive. Doch diese Perspektive wurde vom Gang der Geschichte widerlegt. Die Ermordung Trotzkis durch einen stalinistischen Agenten 1940 versetzte auch der trotzkistischen Bewegung den Todesstoß. Die anderen Köpfe der Vierten Internationale waren den Aufgaben, die ihnen die Geschichte stellte, nicht gewachsen. Sie wiederholten nur die Thesen von Trotzki ohne seine Methode verstanden zu haben. In der Folge machten sie schwerwiegende Fehler, die Vierte Internationale erlitt dadurch Schiffbruch. Die Führung der Vierten Internationale war absolut unfähig die neue Situation nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen. Das Aufbrechen der trotzkistischen Bewegung in viele kleine Gruppen hat in jener Periode seine Wurzeln.

Es ist nicht möglich hier bezüglich der Fehler der Führung der Vierten Internationale mehr ins Detail zu gehen. Es reicht aus festzustellen, dass Mandel, Cannon & Co. nach dem Krieg völlig die Orientierung verloren und dem genuinen Marxismus den Rücken gekehrt haben. Die sogenannte Vierte Internationale degenerierte nach dem Tod Trotzkis zu einer organisch kleinbürgerlichen Sekte. Sie hat nichts mehr zu tun mit den Ideen seines Gründers oder mit einer genuinen Tendenz des Bolschewismus-Leninismus. Die sektiererische Herangehensweise der pseudo-trotzkistischen Gruppen an die Bolivarische Revolution ist ein besonders krasses Beispiel für diese Entwicklung.

Die Zweite und die Dritte Internationale degenerierten zu reformistischen Organisationen, doch zumindest verfügten sie über eine Verankerung in den Massen. Trotzki verfügte im Exil über keinerlei Massenorganisationen, er hatte nur ein korrektes Programm, klare Ideen und Methoden. Er wurde von ArbeiterInnen auf der ganzen Welt respektiert und seinen Ideen wurde zugehört. Heute existiert die Vierte Internationale nicht mehr als eine Organisation. Jene, die in ihrem Namen sprechen (und das sind gar nicht so wenige) haben weder eine Massenverankerung noch korrekte Ideen noch ein sauberes Banner. Das ganze Gerede vom Wiederaufbau der Vierten Internationale wird auf dieser Basis zu nichts führen.

Die Bewegung wurde zurückgeworfen

Lenin hielt viel von dem Satz: “Sagen was ist”. Manchmal ist die Wahrheit sehr bitter, trotzdem müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken. Es ist eine Tatsache, dass aufgrund einer Kombination von objektiven und subjektiven Gründen die revolutionäre Bewegung schwere Rückschläge zu verzeichnen hat, und die Kräfte des genuinen Marxismus auf eine kleine Minderheit reduziert wurden. Das ist die traurige Wahrheit, und wer diese nicht sehen will, lügt sich nur selbst und andere an.

Jahrzehnte des Wirtschaftsaufschwungs in den entwickelten kapitalistischen Ländern haben zu einer noch nie gesehenen Degeneration der Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse geführt. Die revolutionäre Strömung wurde im Zuge dieser Entwicklung isoliert und repräsentiert nur eine kleine Minderheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat zusätzlich noch Verwirrung gestiftet und die Bewegung aus der Bahn geworfen. Die Degeneration der ehemals stalinistischen FührerInnen wurde dadurch endgültig besiegelt, viele von ihnen sind offen ins Lager der kapitalistischen Restauration hinüber gewechselt.

Viele in der Linken haben angesichts dieser Prozesse pessimistische Schlussfolgerungen gezogen. Ihnen können wir nur eins sagen: es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass wir mit einer schwierigen Situation konfrontiert sind, und wir sollten angesichts solcher Schwierigkeiten auch nicht klein beigeben. Wir vertrauen weiter in die Korrektheit des Marxismus, das revolutionäre Potential der ArbeiterInnenklasse und dass schlussendlich der Sozialismus siegen wird. Die gegenwärtige Krise hat den reaktionären Charakter des Kapitalismus offen dargelegt und ein Revival des internationalen Sozialismus steht auf der Tagesordnung. Wir stehen international am Beginn einer Umgruppierung der Kräfte. Was es in diesem Prozess jetzt braucht, ist eine organisierte Ausdrucksform, ein klares Programm, eine Perspektive und eine politische Methode.

Wir stehen heute vor einer Aufgabe, die grob genommen einige Analogien zur Rolle von Marx und Engels zur Zeit der Gründung der Ersten Internationale aufweist. Wie wir schon weiter oben gezeigt haben, war diese Organisation alles andere als homogen und setzte sich aus den verschiedensten Strömungen zusammen. Marx und Engels ließen sich davon aber nicht abschrecken. Sie beteiligten sich an der Bewegung für eine Arbeiterinternationale und arbeiteten dort geduldig, damit eine wissenschaftliche Weltanschauung und Programmatik dort mehrheitsfähig wurde.

Was die IMT von allen anderen Strömungen unterscheidet, die sich in einer trotzkistischen Tradition verstehen, ist unsere sorgfältige Haltung zu Fragen marxistischer Theorie und andererseits unsere Herangehensweise an die Massenorganisationen. Im Gegensatz zu allen anderen Gruppen gehen wir davon aus, dass die ArbeiterInnen, wenn sie sich einmal bewegen, nicht kleine Organisationen am Rande der ArbeiterInnenbewegung als ihr Kampfinstrument verwenden. Schon im Gründungsdokument unserer Bewegung schrieben Marx und Engels:

“ In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt? Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.

Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.

Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“ (Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, II. Proletarier und Kommunisten)

Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen? Nur eine: MarxistInnen dürfen sich nicht von den Massenorganisationen separieren. Das Dilemma unserer Epoche ist, dass die sozialdemokratische Führung der ArbeiterInnenbewegung vor bürgerlichen Politikkonzepten kapituliert hat und so die Erwartungshaltung der ArbeiterInnen erstickt, aber trotzdem verfügt sie weiterhin in vielen Ländern über eine Massenunterstützung. Es ist sehr einfach die offiziellen Führungen als degeneriert abzuschreiben. Die Aufgabe, eine politische Alternative aufzubauen, ist aber viel schwieriger.

Die Internationale wird nicht dadurch aufgebaut, indem man sie einfach nur proklamiert. Sie wird auf der Basis von großen Ereignissen entstehen, so wie die Kommunistische Internationale auf der Grundlage der Erfahrungen der stürmischen Periode von 1914-20 aufgebaut wurde. Ereignisse, Ereignisse, Ereignisse werden notwendig sein, um die Massen von der Notwendigkeit einer revolutionären Umwandlung der Gesellschaft zu überzeugen. Doch zusätzlich müssen wir eine Organisation schaffen, die mit klaren Ideen ausgestattet ist und weltweit über eine solide Verankerung in der ArbeiterInnenklasse verfügt.

Wie sollen wir die Venezolanische Revolution verteidigen

Hugo Chávez, der Führer der Venezolanischen Revolution, schlägt nun den Aufbau einer Fünften Internationale vor. Er wies darauf hin, dass alle bisherigen Internationalen ihren Ursprung in Europa hatten, was die Klassenkämpfe der jeweiligen Zeit widerspiegelte. Doch heute liegt das Epizentrum der Weltrevolution in Lateinamerika und speziell in Venezuela. Es ist eine Tatsache, die niemand leugnen kann, dass die revolutionäre Bewegung heute nirgendwo so fortgeschritten ist wie in Lateinamerika. Die IMT hat diese Perspektive schon vor rund 10 Jahren aufgestellt, und sie wurde durch den Gang der Dinge eindrucksvoll bestätigt.

Chávez spricht dem Rest der Welt, einschließlich Europa und Nordamerika trotzdem das revolutionäre Potential nicht ab. Im Gegenteil, er rief die ArbeiterInnen und Jugendlichen in diesen Regionen schon mehrfach dazu auf sich an der Bewegung für eine sozialistische Revolution zu beteiligen. Er appellierte direkt an die ArbeiterInnen, die Armen und die Afro-AmerikanerInnen in den USA die Venezolanische Revolution zu unterstützen. Diese Haltung hat nichts mit der reaktionären Demagogie zu tun, die wir von politischen Führern aus der “Dritten Welt” kennen, die einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen “Lateinamerika” und den “Gringos” zu konstruieren versuchen. Es ist die Stimme eines authentischen Internationalismus, der zusammengefasst werden kann in dem inspirierenden Slogan: “ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt Euch!”

Der Imperialismus ist fest entschlossen dem revolutionären Prozess in Lateinamerika ein Ende zu setzen. Venezuela stellt eindeutig die Vorhut in diesem Prozess dar, und die internationalistische Politik von Chávez sowie sein Bekenntnis zu einer Weltrevolution ist ein wichtiger Bezugspunkt für die Antiimperialisten auf der ganzen Welt. Die Venezolanische Revolution stellt für die herrschenden Klassen in Nord- und Südamerika ein großes Gefahrenpotential dar. Das ist der Grund, warum der US-Imperialismus Schritte unternimmt, um die Situation wieder zu beruhigen: die Errichtung von sieben Militärbasen in Kolumbien, der Putsch in Honduras und nicht zu letzt das Abkommen zur Errichtung neuer Militärbasen in Panama, womit Venezuela effektiv militärisch umzingelt wäre.

Für die Venezolanische Revolution ist Internationalismus keine zweitrangige Angelegenheit sondern eine Frage von Leben und Tod. In letzter Instanz kann den Bestrebungen des US-Imperialismus nur dann ein Riegel vorgeschoben werden, wenn es gelingt weltweit eine starke Massenbewegung zur Verteidigung der Revolution aufzubauen. Diese Bewegung gilt es ausgehend von Lateinamerika aufzubauen, doch noch wichtiger ist es sie nördlich des Rio Grande zu etablieren. Aus diesem Grund hat die IMT einst die „Hände weg von Venezuela“-Kampagne ins Leben gerufen und aktiv unterstützt. Diese Kampagne kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie sehr erfolgreich versucht hat, weltweit die öffentliche Meinung zur Unterstützung der Venezolanischen Revolution mobilisiert zu haben. Es geht auf unsere Initiative zurück, dass die britischen Gewerkschaften einstimmig eine Resolution in Solidarität mit der Venezolanischen Revolution verabschiedet haben. Wir organisierten in Wien eine Großveranstaltung, wo Präsident Chávez vor 5000 Jugendlichen und ArbeiterInnen gesprochen hat.

Nachdem wir ganz klein angefangen haben, sind wir nun in über 40 Ländern aktiv. Das ist ein achtbares Ergebnis, doch es ist nur ein Anfang. Was es jetzt braucht, ist mehr als nur eine Solidaritätskampagne. Was es jetzt braucht, ist eine revolutionäre Internationale gegen Imperialismus und Kapitalismus, für Sozialismus und in Verteidigung der Venezolanischen Revolution. Was es jetzt braucht, ist eine genuine weltweit agierende revolutionäre Internationale.

Reformismus oder Revolution?

Das Abkommen von Caracas (El Compromiso de Caracas) basiert auf der Grundidee von der Notwendigkeit eines weltweiten Kampfes gegen Imperialismus und Kapitalismus sowie für den Sozialismus. Das ist vorerst eine ausreichende Grundlage zur Vereinigung der kämpferischsten Teile der internationalen ArbeiterInnenbewegung. Wir müssen jedoch sehen, dass dieser Aufruf nicht von allen, die auf dem PSUV-Kongress anwesend waren, mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die ReformistInnen und SozialdemokratInnen waren alles andere als glücklich über Chávez’ Festlegung, die Fünfte Internationale solle nicht nur antiimperialistisch sondern auch antikapitalistisch und sozialistisch sein. Mehrere PolitikerInnen, die auf dem Treffen der Linken Parteien in Caracas anwesend waren, sprachen sich gegen diesen Aufruf aus. Ihre Argumente lauten, dass es ohnedies schon das “Sao Paulo Forum” gebe, und dass die Internationale nicht offen antikapitalistisch sein müsse.

Die wiederholten Treffen des “Sao Paulo Forums” haben ganz eindeutig die Grenzen solcher Projekte offengelegt. Es ähnelt sich dabei um eine reine Quatschbude, eine Bühne für alle nur möglichen ReformistInnen, die dort zusammen kommen, um die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beklagen zu können. Von einer revolutionären, sozialistischen Perspektive sind sie jedoch Lichtjahre entfernt. Die Reformen, die sie für Teilgebiete vorschlagen, ändern aber nichts an der Substanz dieses Systems. Das ist auch der Grund, warum die internationalen Organe des Imperialismus, wie die Weltbank solche Projekte mit Wohlwollen verfolgen und die diversen NGOs auch finanziell unterstützen, weil sie darin ein Mittel sehen, die Aufmerksamkeit vom revolutionären Kampf zur Veränderung der Gesellschaft abzulenken.

Organisationen wir das “Sao Paulo Forum” oder das Weltsozialforum bringen uns im weltweiten Kampf gegen den Kapitalismus keinen Schritt weiter. Chávez hat das eingesehen und deshalb die Gründung einer Fünften Internationale vorgeschlagen, die einen radikalen Bruch mit solchen Bewegungen bedeuten würde. In seiner Rede betonte Chávez, dass die wahre Bedrohung der Menschheit im Kapitalismus selbst zu sehen sei. In Bezug auf die weltweite Krise des Kapitalismus verurteilte er die Versuche der Regierungen das System mit riesigen staatlichen Paketen zu retten. Unsere Aufgabe sei es nicht den Kapitalismus zu retten sondern ihn zu zerstören.

Chávez erklärte, dass dieser Aufruf an alle linken Parteien, Organisationen und Strömungen gerichtet sei. In Venezuela aber auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas stehen wir bereits am Beginn einer breit geführten Debatte innerhalb der Linken. Wie könnte es auch anders sein: Diese Frage spaltet die Linke – doch es handelt sich dabei um eine Form der Spaltung, die bereits zuvor existierte. Es ist die Spaltung zwischen jenen Kräften, die in diesem System einige Reformen durchsetzen und dem Kapitalismus ein menschlicheres Gesicht geben wollen, und jenen, die den Kapitalismus in die Geschichtsbücher verbannen wollen.

In El Salvador etwa ist Präsident Funes, der formal ein Mitglied der FMLN ist, gegen die Fünfte Internationale und sagte öffentlich, dass er kein Sozialist sei. Nichtsdestotrotz hat sich die FMLN offiziell für die Gründung einer Fünften Internationale ausgesprochen. In Mexiko wurde dieser Aufruf von Teilen der PRD und anderen Massenorganisationen positiv aufgegriffen. In Europa wird diese Frage mit Sicherheit zu einer Diskussion in den Kommunistischen und exkommunistischen Parteien und in der Linken im Allgemeinen führen. Früher doer später wird jede Strömung dazu eine Position beziehen müssen.

Welche Haltung sollten MarxistInnen in dieser Frage einnehmen?

Als MarxistInnen sind wir bedingungslos für den Aufbau einer Internationale mit Massenbasis in der ArbeiterInnenklasse. Gegenwärtig existiert keine genuine Masseninternationale. Was einst die Vierte Internationale war, wurde durch die Fehler ihrer Führung nach Trotzkis Ermordung zerstört. In Wirklichkeit ist sie nur noch in den Ideen, den Methoden und dem Programm, das die IMT verteidigt, lebendig. Die IMT verteidigt in allen Ländern die Ideen des Marxismus in den Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse. In diesen Organisationen sollte die Diskussion über den Vorschlag einer Fünften Internationale mit größter Dringlichkeit vorangetrieben werden.

Noch ist es zu früh sagen zu können, ob der Aufruf zur Gründung einer Fünften Internationale tatsächlich zum Aufbau einer genuinen Internationale führen wird. Doch allein die Tatsache, dass dieser Aufruf aus Venezuela und von Präsident Chávez kommt, bedeutet, dass er auf ein Echo stoßen wird, allen voran in Lateinamerika. Dieser Aufruf wird in den Köpfen von vielen ArbeiterInnen und Jugendlichen eine Reihe von Fragen aufwerfen. Welches Programm soll diese Internationale haben? Welche Lehren können wir aus der Geschichte der bisherigen Internationalen ziehen? Was ermöglichte deren Aufstieg, und was führte zu ihrem Niedergang?

MarxistInnen sollten sich aktiv in die Debatte um diese Fragen einbringen. Die IMT hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht, wenn es darum ging die Venezolanische Revolution durch konkrete Solidaritätsarbeit und marxistische Analysen und Perspektiven zu unterstützen. In der Diskussion um die Gründung einer Fünften Internationale müssen MarxistInnen weltweit einmal mehr eine klare Position beziehen. Und wir haben eine Position eingenommen. Bei einem Treffen des Internationalen Exekutivkomitees Anfang März, an der mehr als 40 GenossInnen teilgenommen haben, die GenossInnen aus rund 30 verschiedenen Ländern in Asien, Europa und Amerika (einschließlich Kanada und die USA) repräsentierten, wurde der einstimmige Beschluss gefasst als IMT am Formierungsprozess der Fünften Internationale aktiv teilzunehmen.

Wir erklären mit dieser Stellungnahme unsere volle Unterstützung für den Aufbau einer revolutionären Internationale mit Massenbasis, und wir werden klare Vorschläge in die Diskussion einbringen, welches Programm diese neue Internationale haben soll. Wir wollen niemand unsere Sicht der Dinge aufzwingen; wir sind dafür, dass die Fünfte Internationale und die Organisationen, die sie bilden werden, ihre politischen Positionen über eine bestimmte Zeitspanne hinweg durch eine demokratische Debatte und auf der Basis gemeinsamer Erfahrungen ausarbeiten soll.

  • Für eine weltweite antiimperialistische und antikapitalistische Einheitsfront!
  • Für die internationale sozialistische Revolution!
  • Für ein marxistisches Programm!
  • Lang lebe die Fünfte Internationale!
  • ArbeiterInnen aller Länder, vereinigt Euch!

17. März 2010