Gaza: Ein Wendepunkt in Israels Geschichte nach 1967

German translation of Gaza: a turning point in Israel's post-1967 history by Yossi Schwartz (July 10, 2006)
Im letzen Jahr haben viele Israelis Sharons unilateralen Rückzug aus dem Gazastreifen unterstützt. Sie sahen darin einen ersten Schritt zu einem Frieden basierend auf einem winzigen, von Israel abhängigen palästinensischen Staat unter der Kontrolle von Abu Mazens Gruppe, welche vom US Imperialismus unterstützt wird. Ihnen wurde gesagt, sie seien „Realisten, keine Träumer, im Gegensatz zu den Marxisten, die erzählen, dass es innerhalb des imperialistischen Systems keine Lösung zur nationalen Frage gibt“. Während ihr „Realismus“ allerdings eine Sache ist, ist die Wirklichkeit ein ganz andere.

Der Juni 2006 war der schlimmste Monat für Palästinenser im Gaza. Die Räumung der jüdischen BewohnerInnen zehn Monate vorher gab den israelischen Generälen freie Hand, da sie nun schießen konnten, ohne das Leben jüdischer Bewohner zu gefährden. Der Zeitung Gaza-Ma’an zufolge berichtete der palästinensische Gesundheitsminister Dr. Bassem Naim, dass sich die Zahl der palästinensischen Toten im Juni 2006 im Vergleich zum Juni 2005 verdreifacht hat. Ebenso nahm die Zahl der Verletzten um 120% gegenüber dem Wert des Vergleichsmonats im Vorjahr zu.

55 Palästinenser wurden getötet, einschließlich 30 gezielte Ermordungen, sieben Frauen und vier MitarbeiterInnen des Gesundheitsministeriums. Die Zahl der verletzen PalästinenserInnen im Juni beträgt 159 im Gazastreifen und 145 im Westjordanland, worunter 46 der Verletzten Frauen und 9 MitarbeiterInnen des Gesundheitsministeriums waren.

Der palästinensische Minister verurteilte die israelische Belagerung und die Schließung der Grenzübergänge. Es ist zu befürchten, dass dies eine humanitäre Krise zur Folge haben wird. Unter den Verstößen der Israelis erwähnte er den Beschuss sechs palästinensischer Familien in deren Häusern, Autos bzw. während eines Strandausflugs. Er wies auch auf Fälle von absichtlicher Erniedrigung von medizinischen MitarbeiterInnen und RettungsfahrerInnen während Kranken- und Verletztentransporten hin.

Wie allgemein bekannt, fing die jetzige Krise am Sonntag, den 25. Juni, an, als bewaffnete palästinensische Gruppen einen Guerillaangriff auf einen an der Israel-Gaza Grenze stationierten Armeepanzer ausübten. Sie töteten zwei Soldaten und nahmen Korporal Shalit als einen Kriegsgefangenen. Wie wir bereits in vorherigen Artikeln berichteten, ist dies passiert, obwohl die Armee von der Shin Beth, dem israelischen Geheimdienst, darüber informiert wurde, dass ein solcher Überfall passieren würde. Diese „vorsätzliche Blindheit“ zeigt mehr als deutlich, dass die Generäle nach einer Ausrede gesucht haben, um Gaza anzugreifen, und demnach die Panzerbesatzung geopfert haben. Den Soldaten wurde befohlen, das Feuer nicht zu erwidern, sondern versuchen zu fliehen. Die beiden Soldaten wurden getötet und Shalit wurde auf der „Flucht“ gefangen genommen.

Eines muss allerdings über die Generäle gesagt werden: Höchstwahrscheinlich hatten sie die Gefangennahme von Shalit nicht geplant. Denn von ihrem kaltblütigen Klassenstandpunkt aus, wäre der Tod aller drei Soldaten besser gewesen. Das hätte ihnen eine Ausrede geliefert, die PalästinenserInnen anzugreifen, ohne sich über die unangenehme Frage Gedanken zu machen, ob sie nun Verhandlungen aufnehmen sollen, um den Soldat frei zu bekommen, oder nicht. Was auch immer ihre Absicht war: Sie gingen dazu über, die Situation eskalieren zu lassen.

Am Tag nach dem Angriff auf den Panzer bekannten sich drei palästinensische Gruppen zu dem Guerillaangriff: das „Volkswiderstandskomitee“, der bewaffnete Flügel der herrschenden Hamas-Bewegung und die „Armee des Islam“.

Die Gruppen verlangten von Israel, im Gegenzug zu Informationen über Shalit, festgehaltene Frauen und Minderjährige freizulassen. An Stelle von Verhandlungen gab die israelische Regierung allerdings bekannt, dass sie nicht mit TerroristInnen verhandle. Am frühen Dienstag Morgen zerstörten israelische Flugzeuge wichtige Brücken im Gazastreifen und setzten das einzige Elektrizitätswerk der Region außer Kraft, womit sie viele der 1,4 Millionen Bewohner von der Stormversorgung abschnitten.

Am nächsten Tag, am Mittwoch, den 28. Juni, marschierten israelische Bodentruppen in das südliche Gaza ein. Zur gleichen Zeit flogen israelische Flugzeuge über Syrien, Heimat einiger Anführer der Hamas im Exil, die von dem früheren israelischen Premierminister Rabin vertrieben wurden. Das war eine klare Drohung an Syrien, die zeigt bis zu welchem Ausmaß die Situation eskalieren könnte!

Am 29. Juni verschleppten israelische Truppen Dutzende Mitglieder der Hamas, unter ihnen ein Drittel des palästinensischen Kabinetts und eine Vielzahl von Parlamentsabgeordneten. Am nächsten Tag, den 30. Juni, griffen israelische Flugzeuge Gaza an, einschließlich des Gebäudes des Innenministeriums. Am gleichen Tag widerrief Israel die Aufenthaltsberechtigung eines Ministers der Hamas und dreier Parlamentsabgeordneter im annektierten Teil Jerusalems.

Die Maßnahmen der israelischen Regierung waren Anlass für viele internationale BeobachterInnen, Israel das Ausüben terroristischer Anschläge vorzuwerfen. Aber natürlich leugnen die israelischen Behörden jegliche Ähnlichkeit zwischen ihren Angriffen und den individuellen Terroranschlägen der palästinensischen Gruppen. In diesem Punkt sind wir einer Meinung: Diese Angriffe sind keine individuellen Terroranschläge, sondern ein systematischer, massiver Feldzug des Staatsterrorismus, ausgeführt von der viertstärksten Armee der Welt gegen hauptsächlich unbewaffnete ZivilistInnen; solche Angriffe sind allgemein als Kriegsverbrechen bekannt!

Am 8. Juli behaupteten israelische Generäle, die Armee hätte bis jetzt „40 bewaffnete militante Palästinenser“ während ihres Einfalls in Gaza getötet. Wenn man allerdings genauer hinsieht, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es zeigt sich, dass viele der Getöteten und Verwundeten in Gaza Zivilisten waren. Israel hat Panzer, schwer bewaffnete Truppen, Flugzeuge und Kanonenboote gegen den leicht bewaffneten Widerstand verwendet. Unter den tödlichsten Angriffen am Donnerstag war ein israelischer Luftangriff nahe der Stadt Bait Lahya im nördlichen Gaza, welcher nach Aussagen von Zeugen und medizinischem Personal 6 palästinensische Zivilisten getötet hat.

Bait Lahya war auch der Schauplatz der schwersten Bodenkämpfe: Kämpfer verschiedener Splittergruppen schossen Panzerabwehrraketen von schmalen Gassen mit den israelischen Truppen, die Unterstützung von Panzern und Helikopter hatten. „Israelische Panzer sind vor unserem Haus. Kinder schreien und das Haus bebt. Wir sind mitten im Kreuzfeuer“, erzählte eine Frau einem örtlichen Radiosender.

Aus einem Bericht aus Ramallah, der in dem kubanischen Blatt Granma am 7. Juli erschien:

„Israelische Überschallflugzeuge bombardierten heute Wohngebiete im nördlichen Gazastreifen, ein paar Stunden nach der Verlautbarung, dass dieser Donnerstag der bis jetzt blutigste Tag der Invasion dieses Gebietes sei. ... Das Ausmaß der Anzahl der zivilen Opfer kann daran gemessen werden, dass Krankenhäuser einen Aufruf an die Bevölkerung tätigten, Blut zu spenden, welches aufgrund der Zahl der Menschen die von Raketenschrapnellen getroffen wurden, knapp ist. ... Nicht weniger als 112 Menschen sind in Krankenhäuser eingeliefert worden, größtenteils mit schweren Verletzungen, während, den gleichen Quellen zufolge, die Beerdigung von 24 Opfern willkürlichen Feuerns israelischer Truppen in den Straßen vorüberging. ... Weitere 27 Menschen, hauptsächlich Kinder, wurden laut unvollständigen Zählungen verwundet.“

Eine Zahl alleine zeigt deutlich, in welchen Ausmaß dieser Krieg ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung von Palästina ist: Mehr als 800 palästinensische Kinder sind seit dem Ausbruch der al-Aqsa Intifada im September 2000 getötet worden!

Bedeutende Veränderungen in der Taktik des palästinensischen Widerstands

Die israelische Regierung gibt natürlich der Hamas, der gewählten Regierung, die Schuld für ihre eigenen barbarischen Handlungen. Letztere hat sich nach der Gefangennahme von Shalit verglichen mit der israelischen Regierung durchaus nicht ungeschickt verhalten. In einem an einfach israelische BürgerInnen adressierten Flugblatt ruft sie dazu auf, Druck auf die Regierung bezüglich der Freilassung und dem Austausch von Gefangenen auszuüben, um Shalits Leben zu retten.

Das ist eine sehr bedeutende Entwicklung, weil hier zum ersten Mal von Seiten des palästinensischen Widerstands anerkannt wird, dass es einen Unterschied zwischen dem/der einfachen BürgerIn Israels und den herrschenden Kreisen gibt.

„Jede Nation, deren Anliegen das Wohlergehen ihrer Staatsbürger ist, würde sich genauso verhalten“, sagt Israels Premier Ehud Olmert. Mit „jeder Nation“ denkt er wohl an Bush und seinen Irak-Krieg, wo das US-Militär die Infrastruktur des Irak in den ersten Kriegstagen zerstörte, mit vielen zivilen Opfern. Die Zerstörung von Brücken und zwei Elektrizitätswerken, die zusammen 1,4 Millionen Menschen versorgten, hat nun selbst die Spitäler des Stroms und des fließenden Wassers beraubt.

Der Grund für die Weigerung der israelischen Regierung, in Verhandlungen zu treten hat nichts mit dem Schutz der israelischen Bevölkerung zu tun – Hintergrund ist vielmehr ihr Vorhaben, die Hamas-Regierung zu stürzen und die PalästinenserInnen dafür zu bestrafen, dass sie nicht mehrheitlich Israels bevorzugte Gruppierung, den korrupte Kreis rund um den Präsidenten Abu Mazen, gewählt haben. Abu Mazen hatte mehr als einmal gezeigt, dass er mit den HerrscherInnen Israels gegen sein eigenes Volk zusammenzuarbeiten bereit war.
Vor drei Jahren bot ihm der damalige Premier Ariel Sharon die Freilassung von palästinensischen Gefangenen an. CBS/AP berichtete dazu am 6. Juli 2003:

“Israel unternahm einen Schritt in Richtung der palästinensischen Forderung, als es am Sonntag einwilligte, einige der 5.000 Gefangenen freizulassen, aber Premierminister Ariel Sharon sagte, dass diese begrenzte Maßnahme an die Auflösung der militanten Gruppierungen gebunden sei.“

„Die Freilassung zielt auf eine Stärkung der Regierung des palästinensischen Premierministers Mahmoud Abbas ab, der sich verpflichtet hatte, den Friedensplan, die von den USA unterstützte „road map“, umzusetzen.
„Ein hoher palästinensischer Beamter drückte allerdings seine Enttäuschung wegen der begrenzten Freilassungsinitiative aus. Radikale Gruppen, deren Mitglieder nicht zu auf der Liste der Freizulassenden stehen, verurteilten es [das israelische Angebot, Anm.] umgehend.“

„Die Vereinigten Staaten und Israel unterstützen entschieden Abbas, auch bekannt als Abu Mazen als Alternative zu Yassir Arafat. Als palästinensischer Führer, so glauben sie, kann er gegen die radikalen Gruppen vorgehen.“

Anstatt heute, wo das palästinensische Volk angegriffen wird, in Gaza zu bleiben, hat sich Abu Mazen nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in sein sicheres Haus in Ramallah zurückgezogen und sein Volk auf feige Weise zurückgelassen. Am Freitag, den 7. Juli, gab Abbas eine Pressekonferenz in Gaza, in der er alle palästinensischen Gruppen dazu aufrief, den entführten israelischen Soldaten freizulassen und die Qassam Raketenangriffe einzustellen. Das zeigt uns klar und deutlich den Klassencharakter dieser Leute, die die ImperialistInnen als ihre FreundInnen und RetterInnen ansehen und auf eine Belohnung für ihre Dienste hoffen. So viel zu den ReformistInnen und linken Sekten, die uns weismachen wollen, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen eine demokratische Revolution, eine nationale Befreiungsbewegung anzuführen imstande sei!

Der gegenteilige Effekt

Der Staatsterror der israelischen Regierung ging nach hinten los. Sie hatte gehofft, dass ihr Vorgehen das palästinensische Volk demoralisieren und zur Unterwerfung bewegen würde, während gleichzeitig die israelische Bevölkerung in eine nationalistische Hysterie getrieben werden könnte. Aber das Gegenteil war der Fall.

Fast eine Woche lang wurde der Vater des gefangengehaltenen Soldaten, Naom Shali, von der Regierung als Held gefeiert. Vor laufenden Kameras statteten ihm viele WürdenträgerInnen einen Besuch ab. Am Montag, den 10. Juli, ließ der selbe Vater dann aufhorchen: Es sei „wahnwitzig“ zu glauben, dass der israelische Staat versuchen würde, seine Abschreckungspolitik auf Kosten seines Sohnes wieder glaubhaft zu machen.

Noam Shalit antwortete damit auf Aussagen von Minister Meir Sheetrit, der gemeint hatte, dass Israel sein Abschreckungsniveau wieder heben müsse. Der Vater fügte hinzu, dass er jederzeit bereit wäre, die Kämpfer, die seinen Sohn gefangen halten, zu treffen. Er denkt dabei wahrscheinlich, wie viele andere, an das Schicksal von Ron Arad.

Leutnant Kolonel Arad war Navigator einer F-4 Phantom Maschine mit dem Auftrag des Angriffs auf PLO-Ziele nahe Sidon, im Libanon, am 16. Oktober 1986. Offensichtlich explodierte eine Bombe, die sie abgeworfen hatten, noch in der Luft und rief so viel Schaden am Flugzeug hervor, dass Arad und der Pilot mit dem Schleudersitz aussteigen mussten. Der Pilot wurde wenige Stunden später gerettet, aber Arad wurde von der libanesischen Schiitenmiliz Amal gefangengenommen.

Im Jahre 1987 langten Briefe von Arad ein. Die israelische Regierung verhandelte um seine Freilassung, doch 1988 sollten die Gespräche die schließlich scheiterten. Dirani, der frühere Sicherheitschef von Amal, der angeblich den IAF-Navigator gefangengenommen hatte und Obeid, eine politische Figur der Hisbollah wurden von Israel gekidnappt, um für die Freilassung von Arad als Tauschmittel zu fungieren – dasselbe Muster wie heute. Seit 1988 hat man nichts mehr über sein weiteres Schicksal erfahren.

Dazu Middle East Defence News (Mednews): “Am 18. Dezember 1999 berichtete der Fernsehsender NBC, dass Israel einen geheimen Deal ausverhandelt hatte, als Teil von Bemühungen, Teheran zur Freilassung von Ron Arad zu bewegen, iranisches Öl zu kaufen,. Die undichte Stelle, die von Washington herrührte, brachte alle israelischen Kontakte zum Iran wieder zum Stillstand. Mednews liegen Informationen vor, dass am Tag vor der Veröffentlichung „um auf Nummer sicher zu gehen“ israelische Regierungsbeamte das US-Außenministerium informierten. Man wollte verhindern, dass die gleichen Anschuldigungen aufkamen, wie sie am Beginn der Iran-Contra-Affäre ausgesprochen worden waren. Die Veröffentlichung verhinderte Arads Freilassung, welche bereits im Detail mit den iranischen Behörden ausverhandelt gewesen war. Am 24. Januar 1995 gab der Führer der Hisbollah Sayed Hassan Nasrallah bekannt, dass seine Organisation glaube, dass Arad tot sei und seine sterblichen Überreste nicht mehr auffindbar seien.

Erste Risse in der israelischen Regierung

Noam Shalit ist nicht der einzige Israeli, der einen Gefangenenaustausch fordert. Laut Meinungsumfragen würden 60% der israelischen BürgerInnen ein Ende der Auseinandersetzungen sowie Verhandlungen mit der Hamas zwecks der Freilassung von Shalit und von palästinensischen Gefangenen begrüßen. Das Problem besteht darin, dass man in einer bürgerlichen Demokratie die „VertreterInnen“ nach der Wahl einige Jahre ausgeliefert ist und sie gegen die Interessen der Menschen handeln können. Nur massive, von der Arbeiterbewegung geführte Mobilisierungen können sie zum Rücktritt bringen.

Zum ersten Mal sind nun aufgrund des Drucks von unten Risse in der herrschenden Koalition aufgetreten. Avi Dichter, vor nicht allzu langer Zeit noch Chef des Sicherheitsdienstes und nun Israels Minister für öffentliche Sicherheit, ist mit der Erklärung an die Öffentlichkeit getreten, dass im Falle einer Freilassung des israelischen Soldaten und einer Beendigung der Raketenangriffe Israel „in einer Goodwill-Aktion, wie schon in der Vergangenheit, Gefangene freilassen wird“. Aber während des Wochenendes wies Olmert diese Aussage zurück und wiederholte, dass eine Befreiung von palästinensischen Gefangenen als Gegenleistung für die Freilassung von Shalit nicht in Frage komme.

Im Lichte des erbitterten Widerstands, auf den das israelische Militär im nördlichen Gazastreifen gestoßen ist, sind nun sogar die israelischen Generäle zur Einsicht gekommen, dass ihre Operation gescheitert ist. Am Samstag Morgen zogen sich israelische Einsatzkräfte aus dem nördlichen Gebiet Gazas zurück – drei Tage, nachdem sie eingerückt waren. Als sich die Truppen zurückzogen rief der palästinensische Premier Ismail Haniyeh zu einem beidseitigen Waffenstillstand auf. Laut ägyptischen Quellen, die eine Vermittlerrolle einnehmen wollen, hieß es in einer Erklärung im Namen Haniyehs, dem Vorsitzenden der Hamas-geführten Regierung: „Um aus der heutigen Krise wieder heraus zu kommen, müssen alle Seiten die Ruhe wieder herstellen und alle Militäroperationen beenden... Der Vorschlag soll mit Khaled Meshal, dem Hamasführer in Damaskus abgesprochen, worden sein.“

Premier Ehud Olmert machte alle Hoffnungen eines baldigen Endes des Konflikts zunichte und wies sofort den Aufruf zu einem Waffenstillstand zurück. Zuerst müsse als Voraussetzungen für die Waffenruhe der entführte Korporal freigelassen werden.

Während die Angriffe auf das nördliche Gaza aus der Luft und vom Wasser aus weitergehen, haben die Generäle nun einfach ihre Truppen in den südlichen Gazastreifen verschoben. Dort kamen eine Mutter und zwei Kinder im Stadtteil Sajaiyeh, nahe des Grenzeübergangs Karni, ums Leben. Die israelische Armee hat jede Verantwortung dafür zurückgewiesen, aber bestätigt, dass sie einen Luftangriff auf dieses Gebiet durchgeführt hatten – vorgeblich war das Ziel eine Gruppe bewaffneter Kämpfer gewesen. Wer an Märchen glaubt, der mag wohl auch diese Geschichte für bare Münze nehmen!

Gescheiterte Militäroperation

Am Beginn der Invasion behaupteten die Generäle, dass sie die Angriffe durch Qassam Raketen auf Südisrael unterbinden können würden. In Wahrheit sind sie aber an dieser Aufgabe gescheitert. Zumindest 15 Quassam Raketen wurden am Freitag, den 8. Juli, vom Gazastreifen aus abgefeuert. Die meisten davon schlugen in der Gegend von Sderot ein, eine südlich von Ashkelon und eine einen halben Kilometer von Netivot, ebenfalls in der westlichen Negev. Die Reichweite der Rakete, die bei Netivot einschlug, scheint mehr als zehn Kilometer betragen zu haben. Dies war der erste derartige Vorfall in der Gegend von Netivot. Mit anderen Worten: Die Kämpfer haben ihre primitive Waffenausrüstung etwas verbessern können.

Die Generäle mussten nun zugeben, dass sie die Attacken mit Quassam Raketen nicht durch Militäroperationen beenden können und dabei viele ZivilistInnen töten. Israels Stabschef sagte gegenüber der Haaretz: „Die Operation in Gaza bedeutet nicht, dass es keinen Angriffe mit Quassam Raketen mehr geben wird, wenn wir dort morgen oder übermorgen abziehen. Aber es bedeutet, dass Terrororganisationen einen hohen Preis für jede Quassam zahlen müssen.“ Was die israelischen Generäle damit sagen – zur Zeit, bis sie ihre Geschichte erneut ändern, ist, dass der Grund für den Angriff nicht die Unterbindung der Angriffe mit Quassam Raketen auf das südliche Israel sei, sondern dass die Armee so lange angreifen wird, als Shalit noch nicht freigelassen worden ist – das heißt für viele, viele Tage.

Die Aggression seitens der israelischen Regierung bringt die Bush-Adminstration gehörig ins Schwitzen, weil sie die Reaktion der arabischen Massen fürchtet, wenn sie sich offen hinter Olmerts Regierung stellen. Das zeigt sich u.a. an der Absage des Israel-Besuchs von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den er für die vergangene Woche geplant hatte. Aus israelischen Regierungskreisen heißt es, dass die Absage Rumsfelds als Wunsch nach größerer Distanz zum gegenwärtigen Konflikt zu deuten sei.

Selbst UN Generalsekretär Kofi Annan, seines Zeichens seit vielen Jahren Bushs willige Marionette, war gezwungen eine Erklärung herauszugeben, die den Herrschenden in Israel nicht sehr willkommen sein können: „Ich bin was die gefährliche Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten betrifft äußerst beunruhigt. Ich rufe dazu auf, umgehend Maßnahmen zu setzen, um die verzweifelte humanitäre Lage der Zivilbevölkerung zu verbessern... Die israelischen Luftangriffe auf Gazas einziges Kraftwerk hat weiterreichende Auswirkungen auf Gazas Spitäler, Getreidemühlen, sowie Wasser- und Sanitäranlagen.“

Mögen sie diese Erklärung zum Anlass nehmen, über das Schicksal ihrer südafrikanischen Freunde aus der Zeit der Apartheid nachzudenken. Was wir in Gaza heute sehen, ist ein Wendepunkt in Israels Geschichte seit 1967 und eine Widerspiegelung der chronischen, organischen Krise des Weltimperialismus. Bereits jetzt ist die öffentliche Meinung Israels gegen die Regierung Olmert. Sie kann die Menschen nicht für immer zum Narren halten. Die soziale Polarisierung, die wir in den vergangenen Jahren in verschiedenen Zusammenhängen beobachten konnten, zeigt sich auch anhand dieser aktuellen Frage.

Seit vielen Jahren haben wir MarxistInnen uns abgehoben von der Masse von linken SektiererInnen, die auf Papageienart die Formel wiederholt haben, dass Israel ein einziger reaktionärer Block sei. Diese Einschätzung kommt dabei der herrschenden Klasse Israels sehr gelegen. Sie will die Israelis als ein durch den Zionismus geeintes Volk sehen. Tatsächlich aber ist Israel eine Klassengesellschaft wie jede andere. Die Interessen der ArbeiterInnen, der Armen und der von der Krise des Kapitalismus geschüttelten Mittelschichten stehen im Gegensatz zu der herrschenden Klasse und ihrer DienerInnen.

Wir müssen eines verstehen: Solange die israelische herrschende Klasse an der Macht ist, wird es keinen Frieden zwischen dem israelischen und palästinensischen Volk geben. Die einzige, haltende Lösung liegt bei der Arbeiterklasse. Wir müssen uns gegen den Krieg einer Nation gegen eine andere aussprechen – mit der Perspektive eines Aufstands der unterdrückten Klassen gegen ihre UnterdrückerInnen.